Empowerment

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Inhaltsverzeichnis:

Irrtu(r)m – Wer ist das?
Glück und Glück
Genug
Ich bin bipolar


Irrtu(r)m – Wer ist das?

Ein persönlicher Rückblick von der Teilnehmerin Irmgard Hannemann, August ’23

Den Irrtu(r)m gibt es noch in einer Form, die mir nichts hilft, im Internet. Dort werden gerade Texte aus der Wörterwerkstatt veröffentlicht. Ich bin 84 Jahre alt und habe bei der Redaktion des Irrtu(r)ms mehr als 10 Jahre mitgearbeitet, zu Anfang. Der Irrtu(r)m war zu Beginn, bis zum 30. Jubiläum, ein Buch, welches ein Mal im Jahr herauskam. Es beinhaltete Texte und Bilder von psychisch kranken Menschen für Betroffene, Mitarbeiter sozialer Berufe und alle, die sich für Themen seelischer Gesundheit interessierten. Das Buch sollte auch Menschen ansprechen, die wissen wollten, was man tun kann, um die Verhältnisse zu ändern. Ich bin mit 17 J. (1957) krank geworden und galt als „Irre“, egal was ich tat. War ich aber nicht! Ich erkämpfte mir eine gute Ausbildung, durfte aber nur 12 Jahre als Lehrerin im musischen Gymnasium und einer Blindenschule arbeiten. Bei einer Krise, die in der Klinik behandelt werden musste, wurde durch die Institution Erwerbsminderungsrente gegen meinen Willen beantragt. Ich war bei Aufnahme der Therapie nicht gekündigt, hatte sogar während der Behandlung die Zusage meines Chefs, dass ich nach der Krise wiederkommen sollte, als Lehrerin, Kollegin, Freundin der Kinder und Jugendlichen, mit der Zusage: „Sie werden sehr gebraucht!“ Das war vor dem Personalnotstand, wir hatten ein voll besetztes Kollegium und eine Vertretung für mich. Ich hatte zwei gute Examen und einzigartige Zeugnisse, aber den Makel psychisch krank zu sein. Der Beschluss der Rente stürzte mich in eine erneute, tiefe Krise. Nach der Entlassung aus der Klinik nach vier Jahren vergingen noch weitere drei Jahre, als mich meine ambulante Therapie auf den Irrtu(r)m brachte. Noch angeschlagen kam ich zum Irrtu(r)m in die Redaktion. Wurde von den 10 – 12 Mitarbeitern liebevoll aufgenommen und in die Arbeit eingeführt. In der 1. Sitzung, und in allen Weiteren, wurden Texte vorgelesen, intensiv bearbeitet und abgestimmt. Ist der Text geeignet im nächsten Irrtu(r)m-Buch zu erscheinen? Ich war voll von Ideen zu fast allen Themen, aber sollten so viele fremde Menschen lesen, was ich durchgemacht und durchmachte?? Ich brauchte fast 3 Jahre, bis ich zuließ, dass Inhalte von mir, welche von der Redaktion als sehr gut angenommen waren, auch veröffentlicht wurden. Ich bekam so viel Zuspruch.
Jedes Buch, Inhalt von 1 Jahr Arbeit, ca. 250 – 300 Seiten, wurde Ende des Jahres mit einem Pressefest vorgestellt und für den Verkauf frei gegeben. Beim Pressefest wurden ausgewählte Texte vorgelesen und von den selbst gestalteten Bildern einiges an die Wand projiziert. Als ich dann auch Texte drucken ließ und bereit wurde, beim Pressefest eine Geschichte zu lesen, bekam ich so viel verständnisvolle Reaktion, dass ich wusste, der Irrtu(r)m, die Arbeit in der Redaktion, hat mir unendlich viel geholfen. Die Mitarbeiter*innen hatten ähnliche Probleme und das Erfahrungswissen, wir fanden alle einen Weg, damit zu leben. Zum 20. Bestehen wurden wir eingeladen von Bürgermeister Böhrnsen ins Rathaus, das Pressefest dort zu feiern. Doppelt so viele Anstrengungen und Einsätze, es wurde ein wunderbares Fest in dem Festsaal. Ich las vor: „Ein Baby, dass nicht gewollt war!“ Drei oder vier Männer kamen nach den Lesungen zu mir und bedankten sich herzlich für diesen Text. Wärme, Verständnis, ein Wissen wie es war, wenn ein uneheliches Kind unterwegs war. Der Austausch und die Bearbeitung meiner Themen – schlechte familiäre Verhältnisse, Gewalt in schlimmster Form – im Irrtu(r)m halfen mir. Ich traf Gleichgesinnte und fühlte mich gesehen.
Der Irrtu(r)m, die Menschen, die mit mir zusammenarbeiteten, das Schreiben und Austauschen über Schwierigkeiten und Ausgrenzung, ich bin heute fast gesund, psychisch!


Glück und Glück

Tanja K.

Der Unterschied zwischen dem Wunsch glücklich zu sein und was es wirklich bedeutet, wenn ein Mensch sich glücklich schätzen darf:

Wir sind glücklich, wenn wir einen schönen, neuen Haarschnitt bekommen haben, wenn wir eine heiße Schokolade trinken können oder aber auch, wenn wir einen guten Parkplatz erwischt haben. Aber sind diese Dinge wirklich das, was einen Menschen glücklich machen kann? Viele würden das erstmal mit Ja beantworten. Aber was macht denn wirkliches Glück aus? Und warum braucht es diese kleinen, unterschiedlichen Dinge, damit wir auch spüren, dass wir glücklich sind?
Wir brauchen diese, ich sage mal „Anlässe“, weil wir verlernt haben zu spüren, was nötig ist um glücklich zu sein. Wir haben verlernt uns zu freuen, wenn wir unserem Körper und unserem Geist alles das geben können, was benötigt wird. Das ist nicht genug! So sagen wir es uns. Wir wollen mehr und geben uns nicht zufrieden mit dem, was nötig ist für Körper und Geist.
Wie viele Menschen mehr wären glücklich und zufrieden, würden sie doch nur wissen und spüren, dass es nicht mehr braucht, sondern weniger, um sich glücklich schätzen zu können. Wir brauchen nicht den Parkplatz direkt vor der Tür, wenn wir ehrlich sind brauchen wir nicht mal das Auto. Wir brauchen nicht eine heiße Schokolade, Flüssigkeit ist wichtig und sollte uns allein schon mehr als glücklich machen. Auch brauchen wir keinen Haarschnitt für 200 Euro, denn wir brauchen nicht mal viel Geld.
Was der Mensch wirklich braucht, um glücklich zu sein, ist etwas längst Vergessenes. Etwas, was in unserer Gesellschaft nicht mal mehr erdacht wird. Nämlich zu wissen, wie gut wir es haben. Was wir alles haben, ohne die vielen Extras: Wir haben Kleidung für jede Temperatur, müssen also nie frieren. Wir haben genug Trinkwasser, müssen also niemals durstig sein. Eine warme saubere Wohnung. Es kommt jede Woche eine Müllabfuhr, so dass wir nicht in unserem Müll sitzen oder ihn selbst forttragen müssen. Es gibt so viel Essen, im Überfluss, nie müssen wir Hunger leiden. Eher leiden wir schon an dem Überangebot. Wir können uns bilden, es gibt Bücher, und das Wichtigste daran: Wir können alle lesen, haben es kostenfrei in der Schule gelernt. Wir haben Telefone, wir sind immer erreichbar und können die ganze Welt erreichen.
Ich könnte immer so weiter machen. Es gibt mehr und mehr Punkte, die ich auf meine Liste schreiben könnte, wieso normalerweise ein jeder von uns glücklich sein dürfte.
Ich frage mich: Wieso reicht das hier Keinem, um sich glücklich zu fühlen? Was bitte stimmt nicht mit unserer Wahrnehmung? Ich für meinen Teil hoffe, dass wir Menschen mehr ins Gefühl, mehr ins Bewusstsein kommen. Wenn wir wirklich in uns hinein spüren, was wir brauchen, was in dem jeweiligen Moment nötig ist, dann wird es nicht die Konsole, der Friseur oder das Fußballspiel sein, sondern entweder Schlaf, etwas zu trinken, etwas zu essen, eine warme Strickjacke oder diese vielleicht einfach mal auszuziehen, damit wir nicht mehr schwitzen.
Die Meisten von uns haben einfach alles, alles was es braucht um glücklich zu sein. Ich möchte das beherzigen, ich möchte für mich den Unterschied machen und wünsche mir für Euch, dass Ihr auch bald glücklich sein könnt mit allem was Ihr habt, ohne noch etwas dazu zu bekommen.


Genug

Irene Olthoff

Manchmal vergesse ich, dass wir genug sind.
Hänge die Diskussionen im Alltag höher, als die schönen Abende zu zweit.
Schätze auch zu wenig, die Familienzeit.
Ich mache mir Gedanken, alles hinzukriegen 
Statt wirklich wahrzunehmen, wie wir uns vor Lachen biegen.
Bin vertieft in wie mein Kleiner werden soll
Und wie ich ihm beistehe
Statt zu sehen was er heut
Schon schafft auf seinem Wege
Manchmal vergesse ich, dass es genug ist.
Gefangen in schweren Gedanken
Bin ich verschlossen für all die Wunder
Übergehe aufzutanken
Steig Stufe für Stufe runter
Denke an den Krieg, an all die Sorgen
Schulter mit schlechtem Gewissen das Klima von Morgen 
Fühle mich hilflos und in Ohnmacht
Dabei gibt mir doch zugleich so Vieles Kraft
Ich bin beschenkt mit Erfahrungen wie Meeresrauschen
Kann arbeiten und mich mit Menschen austauschen 
Kann Essen genießen und Reisen wagen
Lasse mich von meinen Füßen überall hintragen
Bin fähig meine Stimme zu erheben
Kann gerade frei von Depression mein Leben leben 
Manchmal vergesse ich, dass ich genug bin.
Hab solange versucht, zu reichen
Wollte dafür immer mehr leisten
Hab meine Löcher mit Anerkennung gestopft
Und mich trotzdem nicht Ganz gefühlt
Dass das falsch ist, erfasste mein Kopf 
Doch mein Herz hat weiter gewühlt
Inzwischen merke ich auf bei dieser inneren Stimme
Sage mir, dass ich mich gut finde
Und hoffe, dass ich nicht vergesse:
Wir sind genug.
Es ist genug.
Ich bin genug.


Ich bin bipolar

Irene Olthoff

Ich bin bipolar.

Anders als andere Menschen trage ich das Risiko, depressiv, hypomanisch, manisch oder psychotisch zu werden. Das macht meine Grenzen bedeutsam, vielleicht manchmal mehr als „normalerweise“. Ich achte darauf, genug zu schlafen, gesund zu essen, regelmäßig Sport zu machen, mich auszuruhen und zu entspannen, soziale Kontakte zu pflegen, damit ich nicht krank werde.
Dieses Achten meiner Grenzen ist einfach notwendig. Wenn ich es schaffe, sie zu achten und gesund zu bleiben, ist das Stärke. Wenn ich merke, dass ich Hilfe brauche und danach frage, ist das Stärke.

Ich schaffe es trotz dieser Störung …

  • … meinen Sohn zu umsorgen, zu lieben und zu erziehen, ruhig auf seine Trotzanfälle zu reagieren und ihm ein echtes Gegenüber zu sein. Jeden Morgen gegen 6 Uhr aufzustehen, (auch am Wochenende nicht auszuschlafen), ihm eine Brotdose zu machen, ihn zur Krippe zu bringen, den Tag als berufstätige Mutter so zu strukturieren, dass wir es sauber haben und gemeinsam etwas Frisches essen können. Ich organisiere täglich Telefonate, Arzttermine, Geburtstagsgeschenke, usw. Wenn mein Sohn krank wird oder die Krippe schließt, organisiere ich auch das spontan.
  • … meine Medikamente rechtzeitig zu nehmen, wenn ich Frühwarnzeichen erkenne. Die Meinung von Fachärzten auch mal zu hinterfragen, wenn sie sich nicht richtig anfühlt und meinen eigenen Fahrplan zu erstellen. Trotz Schwierigkeiten mit gängiger Medikation und damit einhergehend häufigen Diskussionen, halte ich Rücksprache mit mir vertrauten Ärzten und setze nichts schlagartig ab. Ich höre aber auch auf meinen Körper und setze mich im Zweifelsfall durch.
  • … seit gut 11 Jahren eine feste Beziehung zu führen, seit 5 Jahren sind wir glücklich verheiratet. Wir haben unsere Auf’s und Ab’s, klar, aber wir meistern sie auch zusammen. Das bedeutet auch: Gemeinsam akute Phasen, Klinikaufenthalte überwinden. Sich während der Elternschaft neu finden, die Paarbeziehung auch mit Kleinkind integrieren. Offen kommunizieren.
  • … berufstätig zu sein. Ich fahre einmal wöchentlich eine Pendelstrecke von 98km hin und 98km zurück. Die restliche Arbeitszeit strukturiere ich selbstständig im Homeoffice. Im Job lebe ich einen anderen Teil meiner Persönlichkeit aus und beschäftige mich mit völlig anderen Dingen.
  • … mir Zeit für Freundschaften zu nehmen und den Spaß am Leben zu bewahren. Ich fahre gern zum Badesee, schreibe gerne, lese gerne. Ab und an tanze ich auf einer Party oder hüpfe zur Livemusik. Ich liebe auch Tiere und sorge dafür, dass unsere Katze alles hat was sie braucht.
  • … nicht mehr zu rauchen.

Wenn ich weiter hier sitze und über die Stichpunkte nachdenke, fällt mir bestimmt noch etwas ein. Und trotzdem bin ich mir nie genug. Ich habe heute mit meiner Therapeutin gesprochen, ob und wie ich mehr Unterstützung zuhause bekommen kann, um mich vor Überlastung zu schützen und stabil zu bleiben. Ich fühle mich schwach.

Wenn ich merke, dass ich Hilfe brauche und danach frage, ist das Stärke.
Wenn ich merke, dass ich Hilfe brauche und danach frage, ist das Stärke.
Wenn ich merke, dass ich Hilfe brauche und danach frage, ist das Stärke.

Update: Ich bin genug. Eine besonders intensive Heilbehandlung unterstützte mich dabei, den alten Glaubenssatz aus dem System zu schmeißen und endlich bei mir anzukommen. Jeder geht seinen eigenen Weg. Heute bin ich dankbar und atme frei. Meistens.