Genesungsgeschichten
Hinweis:
In dieser Rubrik veröffentlichen Autor*innen ihre Genesungsgeschichten. Vor Genesungen stehen oft Situationen, warum eine Genesung überhaupt erforderlich war. Das bedeutet, dass hier sexuelle oder körperliche Gewalt, Suizidgedanken und weitere psychiatrische Symptome in den Geschichten angerissen werden können. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei Dir der Fall ist.
Inhaltsverzeichnis:
Die richtige Diagnose
I never promised you a rose garden
Mein langer Weg
Der Aussteiger
Achterbahn
Mutterschaft
Die richtige Diagnose
Irmgard Hannemann
Ich bin 84 Jahre alt und bin fast 70 Jahre aufs Schwerste stigmatisiert worden. Mit 17 musste ich ins Landeskrankenhaus Hannover Langenhagen. Ich weiß nicht so recht, warum ich völlig ohne richtigen Grund einen Suizid versuchte, ich war eine sehr gute Schülerin und stand kurz vor dem „Abi“. Jedoch belastete mich, dass ich zu dem Zeitpunkt (seit 2 Jahren) ab und zu Depressionen hatte und ich mit meinen Eltern darum kämpfen musste, Lehrerin zu werden. Sie wollten es mir verbieten: „Fremder Leute Kinder erziehen, nicht mit uns!“ Und gerade das war für mich zur Aufgabe, Berufung geworden. An dem verhängnisvollen Tag durfte ich allein, ohne Hilfe am Barren turnen. Ich verursachte absichtlich einen schweren Unfall. Man „schickte“ mich nach Hause, ca. ½ Std. Fußweg und ich übergab mich mehrmals. Mir war sehr schwindelig! Zuhause war niemand, wir waren „Schlüsselkinder“, Mutter und Vater arbeiteten beide Vollzeit. Ich konnte nichts essen, keine Schularbeiten machen und mich nur hinlegen. Als Mutter nach Hause kam, 18.30 Uhr, war ich verwirrt und hatte starke Kopfschmerzen. Wie ich dann in die Nervenheilanstalt kam? Ich weiß es nicht. Was ich erzählt habe? Es muss wohl dazu geführt haben, dass unsere Hausärztin und ein hinzugezogener Nervenarzt mehr sahen, als eine Gehirnerschütterung. Und diese Einweisung sollte mir Vieles verderben. Nach der Entlassung lag ein Brief meiner Schule auf dem Tisch, mit dem Halbjahreszeugnis als Abschluss und dem Verbot, die Schule je wieder zu betreten. Ich brauchte das „Abi“ aber, um mein Ziel zu erreichen. Meine Deutschlehrerin hielt den Rauswurf zum Glück für völlig verkehrt und meldete mich sofort an einer anderen Schule an. Ich machte ein knappes Jahr später dort meine allgemeine Hochschulreife mit guten Noten.
Zum Glück brauchte ich für die Uni nur das Abgangszeugnis. Ich machte mein Studium ohne ein Tag krank zu sein. Trotzdem fiel auf, dass mein Sozialverhalten miserabel war, ich keinerlei Kontakte hatte und meine Familie die ganzen acht Semester kein einziges Mal sah. Ich merkte zudem durch das, was ich in Psychologie, Heilpädagogik und Unterrichtsvorbereitungen lernte, dass ich psychisch krank war, ohne allerdings Leistungseinbrüche zu haben. Ich hatte vor dem Studium ein soziales Jahr im Krankenhaus gemacht und war während der Zeit „Schwestern Helferin“ geworden. Dieses half mir, das Studium, welches meine Eltern ablehnten, zu finanzieren. Ein Stipendium für Studiengebühren, Bücher und Exkursionen ergänzte meine Möglichkeiten, die Situation wirtschaftlich zu bestehen. Ich machte Nachtdienst als 2. Kraft, die 1. war eine voll ausgebildete Schwester. Ich arbeitete von Freitagabend bis Samstag früh und Samstagabend bis Sonntag früh. Sonntagabend ging ich früher ins Bett und war Montag früh ausgeschlafen und fit.
Ich sprach nach dem ersten Semester mit der Professorin, die Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Tiefenpsychologie lehrte, und wir redeten über mein Verhalten. Sie bestätigte mir, dass ich psychisch krank sei und eine Therapie machen müsse. Trotzdem sollte ich nach Möglichkeit zuerst das Studium beenden. Meine Leistungen seien so gut, ein sehr gutes Examen würde alles besser machen.
Ja, und dann hatte ich nach dem 2. Staatsexamen das sehr gute Zeugnis und durfte nicht so ohne Weiteres in den Lehrerberuf eintreten. Was für den Eintritt in den Staatsdienst noch fehlte, war ein Führungs- und Gesundheitszeugnis vom Hauptgesundheitsamt des Heimatortes, und da stand, dass ich vor 7 Jahren in der Nervenheilanstalt war. Noch keine schlimme Diagnose, aber ich war auffällig geworden und hatte dadurch keinen Anspruch auf eine normale Stelle, Aufnahme ins Beamtendasein und staatliche Förderung. Ein großer Schreck. Zum Glück war das „schwarze Brett“ im Eingang voll mit Gesuchen von Schulen, die Lehrkräfte mit guten Zeugnissen und den Fächern: Biologie, Kunst und Kunstgeschichte suchten: Musische Gymnasien, Privatschulen (mit Zielen, welche mir gefielen). Ich arbeitete 4 Jahre und bekam dann eine schwere Depression. Mein damaliger Chef brachte mich in eine Reformklinik, das bedeutete Abstand zum Beruf, ganz viel ausruhen, spazieren gehen, Musik hören… Das brauchte ich nun gar nicht. Es waren keine Probleme im fachlichen Arbeiten gewesen, nur ich hatte mich 100%ig überfordert. Ich brauchte eine gesündere Einstellung zu dem, was ich mir zumute. Die Klassenleitung einer 13. Klasse konnte ich z.B. nur mit zu viel Einsatz im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen machen und da saß der Haken.
Da ich als untherapierbar galt, nicht über Symptome, Ängste, Kindheit sprach, stellte man mir frei, die Klinik zu verlassen. Aber wo sollte ich hin? Mein Chef hatte mir zuvor ein besonders gutes Arbeitszeugnis geschickt, aber wo sollte ich es besser machen? Es blieb nichts, als nach Hause zu meinen Eltern zu gehen. Nach ca. 15-17 Jahren und ohne zu wissen: Was wird weiter? Und nun stand in meiner Akte auch noch „Paranoid Schizophren“. Wo kam die Diagnose her? Ich wusste wenig über die Krankheit. War sie gleichzusetzen mit Depression und Angst? Wo waren Unterschiede, würde ich je wieder eine Arbeit bekommen? Was war mit meinem Beruf, der für mich sogar eine Berufung war? Für jede neue Stelle brauchte ich ein Gesundheitszeugnis! War die Krankheit heilbar? Und wo und wodurch? Psychische Erkrankungen waren noch so unbekannt. Patienten mit nicht erklärbaren Symptomen wurden einfach weggesperrt, Behandlungen gab es noch nicht Ende der 60er Jahre. Aber ich hatte doch nur Depressionen, das war doch etwas Anderes? Meine Eltern wollten mich nicht aufnehmen. Ich hatte ihrer Meinung nach versagt, was sie damals, als ich mit der Ausbildung anfing ja schon vorausgesagt hatten. „Fremder Leute Kinder erziehen, ein Unding!“, so hatten sie Recht behalten. Aber auf die Straße setzen, das ginge auch nicht. Tagelang dauerten die Auseinandersetzungen, währenddessen unklar war, ob ich bleiben durfte. Nach ca. 14 Tagen bekam ich einen Brief von Dr. Berg, Leiter des Blindenzentrums Hamburg. Er bat um einen Besuch. Woher er erfahren hat, was mir passiert ist, habe ich nie erfahren. Er kannte mich aus dem Studium in Kassel. Und plötzlich war alles wieder o.k. Er wollte mich als Lehrkraft für die Schule, vor allen Dingen für den Gymnasialzweig. Ich sollte viel Einzelunterricht geben, würde wieder voll als Lehrkraft eingestellt und könnte vergessen, was gewesen war. Und wirklich, ich war glücklich, und tat zufriedenstellend den Dienst, 4 Jahre wieder, ohne Krankschreibung. Doch dann kam wieder eine schwere Depression. Ich musste aufgeben und kam nach Häcklingen in die Klinik. Nach 4 Jahren Therapie wurde plötzlich gegen meinen Willen meine Berentung eingeleitet und bei der Diagnose erfolgte sofort die Genehmigung. Ich war gerade erst 40 Jahre alt, mir wurde keine Umschulung zugetraut, nichts. Und ich stand vor der Entlassung nichtsahnend schon im Kontakt zur Schule und alle freuten sich, dass ich bald wiederkäme. Doch psychisch krank und pädagogische Arbeit, das durfte bei den Amtsärzten nicht sein.
Dann folgten viele Jahre Psychiatrie obwohl niemand wusste, wie eine Therapie aussehen konnte. Aufgrund der Berentung fehlte mir eine Perspektive. Die Depressionen waren unberechenbar, Symptome für eine Schizophrenie nicht da. Ich war am Ende meiner Kraft. Keine sinnvolle Aufgabe, wofür überhaupt leben. Ende 1990 kam ich dann zum Irrtu(r)m und lernte in der Redaktion, meine schwere Kindheit, Krieg und unglückliche Therapieversuche zu bearbeiten. Ich schrieb über die ganzen Themen, vor allem über die Diagnose Schizophrenie, über die ich inzwischen viel wusste und über die Stigmatisierung durch die Diagnose. Nach vielen, vielen Jahren bekam ich dann die für mich richtige Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ und wurde fast gesund! Auf einmal fühlte ich mich ernst genommen und angenommen. Meine angebliche Verrücktheit war erklärbar. Ich habe keinen Einfluss auf die Symptome, aber das Stigma der paranoiden Schizophrenie ist weg und das erleichtert mich. Am liebsten wäre mir, es würde aus allen Akten verschwinden, was leider rückwirkend nicht geht. Es dauerte 60 Jahre vom ersten Psychiatrie Aufenthalt bis zur neuen Diagnose – 60 Jahre fühlte ich mich missverstanden. Ich möchte selbst nicht stigmatisierend wirken bei meiner Ablehnung, aber es war einfach nicht der richtige Deckel. Für mich war es wichtig, eine Diagnose zu finden, mit der ich mich verstanden fühlte und womit ich arbeiten konnte.
Ich bin 84 Jahre alt und bin fast 70 Jahre aufs Schwerste stigmatisiert worden. Mit 17 musste ich ins Landeskrankenhaus Hannover Langenhagen. Ich weiß nicht so recht, warum ich völlig ohne richtigen Grund einen Suizid versuchte, ich war eine sehr gute Schülerin und stand kurz vor dem „Abi“. Jedoch belastete mich, dass ich zu dem Zeitpunkt (seit 2 Jahren) ab und zu Depressionen hatte und ich mit meinen Eltern darum kämpfen musste, Lehrerin zu werden. Sie wollten es mir verbieten: „Fremder Leute Kinder erziehen, nicht mit uns!“ Und gerade das war für mich zur Aufgabe, Berufung geworden. An dem verhängnisvollen Tag durfte ich allein, ohne Hilfe am Barren turnen. Ich verursachte absichtlich einen schweren Unfall. Man „schickte“ mich nach Hause, ca. ½ Std. Fußweg und ich übergab mich mehrmals. Mir war sehr schwindelig! Zuhause war niemand, wir waren „Schlüsselkinder“, Mutter und Vater arbeiteten beide Vollzeit. Ich konnte nichts essen, keine Schularbeiten machen und mich nur hinlegen. Als Mutter nach Hause kam, 18.30 Uhr, war ich verwirrt und hatte starke Kopfschmerzen. Wie ich dann in die Nervenheilanstalt kam? Ich weiß es nicht. Was ich erzählt habe? Es muss wohl dazu geführt haben, dass unsere Hausärztin und ein hinzugezogener Nervenarzt mehr sahen, als eine Gehirnerschütterung. Und diese Einweisung sollte mir Vieles verderben. Nach der Entlassung lag ein Brief meiner Schule auf dem Tisch, mit dem Halbjahreszeugnis als Abschluss und dem Verbot, die Schule je wieder zu betreten. Ich brauchte das „Abi“ aber, um mein Ziel zu erreichen. Meine Deutschlehrerin hielt den Rauswurf zum Glück für völlig verkehrt und meldete mich sofort an einer anderen Schule an. Ich machte ein knappes Jahr später dort meine allgemeine Hochschulreife mit guten Noten.
Zum Glück brauchte ich für die Uni nur das Abgangszeugnis. Ich machte mein Studium ohne ein Tag krank zu sein. Trotzdem fiel auf, dass mein Sozialverhalten miserabel war, ich keinerlei Kontakte hatte und meine Familie die ganzen acht Semester kein einziges Mal sah. Ich merkte zudem durch das, was ich in Psychologie, Heilpädagogik und Unterrichtsvorbereitungen lernte, dass ich psychisch krank war, ohne allerdings Leistungseinbrüche zu haben. Ich hatte vor dem Studium ein soziales Jahr im Krankenhaus gemacht und war während der Zeit „Schwestern Helferin“ geworden. Dieses half mir, das Studium, welches meine Eltern ablehnten, zu finanzieren. Ein Stipendium für Studiengebühren, Bücher und Exkursionen ergänzte meine Möglichkeiten, die Situation wirtschaftlich zu bestehen. Ich machte Nachtdienst als 2. Kraft, die 1. war eine voll ausgebildete Schwester. Ich arbeitete von Freitagabend bis Samstag früh und Samstagabend bis Sonntag früh. Sonntagabend ging ich früher ins Bett und war Montag früh ausgeschlafen und fit.
Ich sprach nach dem ersten Semester mit der Professorin, die Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Tiefenpsychologie lehrte, und wir redeten über mein Verhalten. Sie bestätigte mir, dass ich psychisch krank sei und eine Therapie machen müsse. Trotzdem sollte ich nach Möglichkeit zuerst das Studium beenden. Meine Leistungen seien so gut, ein sehr gutes Examen würde alles besser machen.
Ja, und dann hatte ich nach dem 2. Staatsexamen das sehr gute Zeugnis und durfte nicht so ohne Weiteres in den Lehrerberuf eintreten. Was für den Eintritt in den Staatsdienst noch fehlte, war ein Führungs- und Gesundheitszeugnis vom Hauptgesundheitsamt des Heimatortes, und da stand, dass ich vor 7 Jahren in der Nervenheilanstalt war. Noch keine schlimme Diagnose, aber ich war auffällig geworden und hatte dadurch keinen Anspruch auf eine normale Stelle, Aufnahme ins Beamtendasein und staatliche Förderung. Ein großer Schreck. Zum Glück war das „schwarze Brett“ im Eingang voll mit Gesuchen von Schulen, die Lehrkräfte mit guten Zeugnissen und den Fächern: Biologie, Kunst und Kunstgeschichte suchten: Musische Gymnasien, Privatschulen (mit Zielen, welche mir gefielen). Ich arbeitete 4 Jahre und bekam dann eine schwere Depression. Mein damaliger Chef brachte mich in eine Reformklinik, das bedeutete Abstand zum Beruf, ganz viel ausruhen, spazieren gehen, Musik hören… Das brauchte ich nun gar nicht. Es waren keine Probleme im fachlichen Arbeiten gewesen, nur ich hatte mich 100%ig überfordert. Ich brauchte eine gesündere Einstellung zu dem, was ich mir zumute. Die Klassenleitung einer 13. Klasse konnte ich z.B. nur mit zu viel Einsatz im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen machen und da saß der Haken.
Da ich als untherapierbar galt, nicht über Symptome, Ängste, Kindheit sprach, stellte man mir frei, die Klinik zu verlassen. Aber wo sollte ich hin? Mein Chef hatte mir zuvor ein besonders gutes Arbeitszeugnis geschickt, aber wo sollte ich es besser machen? Es blieb nichts, als nach Hause zu meinen Eltern zu gehen. Nach ca. 15-17 Jahren und ohne zu wissen: Was wird weiter? Und nun stand in meiner Akte auch noch „Paranoid Schizophren“. Wo kam die Diagnose her? Ich wusste wenig über die Krankheit. War sie gleichzusetzen mit Depression und Angst? Wo waren Unterschiede, würde ich je wieder eine Arbeit bekommen? Was war mit meinem Beruf, der für mich sogar eine Berufung war? Für jede neue Stelle brauchte ich ein Gesundheitszeugnis! War die Krankheit heilbar? Und wo und wodurch? Psychische Erkrankungen waren noch so unbekannt. Patienten mit nicht erklärbaren Symptomen wurden einfach weggesperrt, Behandlungen gab es noch nicht Ende der 60er Jahre. Aber ich hatte doch nur Depressionen, das war doch etwas Anderes? Meine Eltern wollten mich nicht aufnehmen. Ich hatte ihrer Meinung nach versagt, was sie damals, als ich mit der Ausbildung anfing ja schon vorausgesagt hatten. „Fremder Leute Kinder erziehen, ein Unding!“, so hatten sie Recht behalten. Aber auf die Straße setzen, das ginge auch nicht. Tagelang dauerten die Auseinandersetzungen, währenddessen unklar war, ob ich bleiben durfte. Nach ca. 14 Tagen bekam ich einen Brief von Dr. Berg, Leiter des Blindenzentrums Hamburg. Er bat um einen Besuch. Woher er erfahren hat, was mir passiert ist, habe ich nie erfahren. Er kannte mich aus dem Studium in Kassel. Und plötzlich war alles wieder o.k. Er wollte mich als Lehrkraft für die Schule, vor allen Dingen für den Gymnasialzweig. Ich sollte viel Einzelunterricht geben, würde wieder voll als Lehrkraft eingestellt und könnte vergessen, was gewesen war. Und wirklich, ich war glücklich, und tat zufriedenstellend den Dienst, 4 Jahre wieder, ohne Krankschreibung. Doch dann kam wieder eine schwere Depression. Ich musste aufgeben und kam nach Häcklingen in die Klinik. Nach 4 Jahren Therapie wurde plötzlich gegen meinen Willen meine Berentung eingeleitet und bei der Diagnose erfolgte sofort die Genehmigung. Ich war gerade erst 40 Jahre alt, mir wurde keine Umschulung zugetraut, nichts. Und ich stand vor der Entlassung nichtsahnend schon im Kontakt zur Schule und alle freuten sich, dass ich bald wiederkäme. Doch psychisch krank und pädagogische Arbeit, das durfte bei den Amtsärzten nicht sein.
Dann folgten viele Jahre Psychiatrie obwohl niemand wusste, wie eine Therapie aussehen konnte. Aufgrund der Berentung fehlte mir eine Perspektive. Die Depressionen waren unberechenbar, Symptome für eine Schizophrenie nicht da. Ich war am Ende meiner Kraft. Keine sinnvolle Aufgabe, wofür überhaupt leben. Ende 1990 kam ich dann zum Irrtu(r)m und lernte in der Redaktion, meine schwere Kindheit, Krieg und unglückliche Therapieversuche zu bearbeiten. Ich schrieb über die ganzen Themen, vor allem über die Diagnose Schizophrenie, über die ich inzwischen viel wusste und über die Stigmatisierung durch die Diagnose. Nach vielen, vielen Jahren bekam ich dann die für mich richtige Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ und wurde fast gesund! Auf einmal fühlte ich mich ernst genommen und angenommen. Meine angebliche Verrücktheit war erklärbar. Ich habe keinen Einfluss auf die Symptome, aber das Stigma der paranoiden Schizophrenie ist weg und das erleichtert mich. Am liebsten wäre mir, es würde aus allen Akten verschwinden, was leider rückwirkend nicht geht. Es dauerte 60 Jahre vom ersten Psychiatrie Aufenthalt bis zur neuen Diagnose – 60 Jahre fühlte ich mich missverstanden. Ich möchte selbst nicht stigmatisierend wirken bei meiner Ablehnung, aber es war einfach nicht der richtige Deckel. Für mich war es wichtig, eine Diagnose zu finden, mit der ich mich verstanden fühlte und womit ich arbeiten konnte.
I never promised you a rose garden
anonym
Ich bin im März 1979 in einem Bremer Krankenhaus geboren. Meine Kindheit und Jugend habe ich in der Nähe von Bremen verbracht. Mein Vater hat ca. vier Jahrzehnte bis zu seiner Berentung bei Mercedes-Benz im kaufmännischen Bereich gearbeitet. Nachdem sich meine Mutter neun bzw. zwölf Jahre ausschließlich um die Erziehung meines drei Jahre jüngeren Bruders und von mir gekümmert hat, führt sie mittlerweile selbstständig ein Einzelhandelsgeschäft. Wir lebten als Familie ländlich in einem kleinen Gemeindeteil. Aus dem Fenster meines Kinderzimmers konnte ich auf eine Kuhweide schauen und in einiger Entfernung zuweilen Rehe entdecken. Ich spielte in dem kleinen Sportverein des Gemeindeteils Fußball und Tennis. Ich habe zudem noch gerne auf unserem Hof Basketball gespielt und bin den ca. 5km langen Weg zu meiner Schule grundsätzlich mit Fahrrad gefahren. Eine Tanzschule zu besuchen war bei uns im Ort üblich. Dies machte ich im Gegensatz zu den meisten anderen über den Fortgeschrittenenkurs hinaus. In meinen letzten Schuljahren hatten wir eine sehr gute Jahrgangsgemeinschaft mit regelmäßigen Zusammenkünften und oftmals großen Feiern am Wochenende. Ein Schulfreund von mir hatte sich einen relativ professionellen Tischfußballtisch gekauft und wir haben uns daraufhin regelmäßig mit ca. sechs Personen getroffen und wechselnde Doppel gespielt.
Soweit ein erster Einblick in mein Leben. Allerdings gestaltete sich anderes schwieriger. Ich hatte lange Zeit Hoffnung, eine partnerschaftliche Beziehung mit meiner besten Freundin einzugehen. Es blieb allerdings nur bei einer Freundschaft und ich hatte noch keine partnerschaftliche Beziehung bis zu meiner Ersterkrankung im Alter von 19 Jahren. Zu dem Zeitpunkt absolvierte ich meinen Zivildienst. Ich hatte bis dahin wohl nicht genügend soziale Kompetenzen erlernt, dass ich den Übergang von Schule in Beruf gut schaffen und mit den damaligen Belastungen ausreichend gut umgehen konnte.
Ich verließ mein Zimmer nicht mehr und hörte auf zu sprechen. Ich entwickelte die Vorstellung, dass mein Umfeld meine Gedanken verstehen konnte.
Das ich auf Ansprachen meines Umfelds meine Antwort nur dachte, führte natürlich zu großer Verunsicherung bei meinen Angehörigen. Ich fand diesen Zustand schrecklich, hatte den Eindruck dies würde stets so bleiben, wollte meinen Angehörigen nicht zur Last fallen und hatte Suizidgedanken. Meine Eltern kontaktierten einen niedergelassenen Psychiater, der mit seiner jungen Kollegin einen Hausbesuch machte. Dieser empfahl mir die Einnahme eines Psychopharmakons, was ich ablehnte.
Als ich schließlich einige Termine bei der eben erwähnten jungen niedergelassenen Psychiaterin wahrgenommen hatte, stellte sie mir die Frage, ob ich Suizidgedanken hätte. Ich antwortete auf die Vergangenheit bezogen wahrheitsgemäß. Obwohl ich meines Erachtens auf dem Weg der Besserung war, wurde meinen Eltern empfohlen, dass ich in die geschlossene Abteilung einer psychiatrische Klinik eingewiesen werden sollte. Dort wurde gegen meinen Willen ein Neuroleptikum angesetzt. Nach zwei Wochen durfte ich die geschlossene Station verlassen und nach weiteren fünf Wochen auf einer anderen Station wurde ich endlich aus dem Landeskrankenhaus Osnabrück entlassen. An meinem letzten Tag dort wurde mir von einem Teammitglied geraten, das Neuroleptikum nicht abzusetzen. Auch da ich keine Beziehung zu den dort arbeitenden Personen aufgebaut und ein negatives Erlebnis mit diesem Teammitglied hatte, setzte ich das Neuroleptikum kurz nach der Entlassung von einem Tag auf den anderen komplett ab.
Der Bruder meiner Mutter hatte mir angeboten, in der Firma, in der er als Prokurist arbeitet, eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann zu absolvieren. Ich entwickelte zu gute Laune und sozial unangepasstes Verhalten. Da ich mit einer Ausbildungskollegin zusammen gekommen war, nutzte ich zum Beispiel zu viele Gelegenheiten, um Artikel in die benachbarte Halle zu bringen, da ich hoffte, sie dort zu sehen. Mein Onkel war drei Wochen im Urlaub und konnte nicht rechtzeitig mit mir sprechen, dass ich mein Verhalten ändern müsse, so dass ich in der Probezeit gekündigt wurde. An den Moment, dass meine Mutter damals weinen musste, als sie dies von ihrem Bruder erfuhr, denke ich mit Scham zurück.
Meine sehr gute Laune wurde in der Folge so gut, dass ich wieder psychotische Symptome entwickelte. Ich war überzeugt, dass das Ende der Welt bald kommen würde und ich dabei eine Aufgabe hatte. Ich kann mich noch erinnern, dass der Rettungssanitäter, der später mit dabei war mich mit einem Krankenwagen in die nächste psychiatrische Klinik zu bringen, über mein Verhalten im Wohnzimmer meines Elternhauses schmunzeln musste. Ich hatte es zum Beispiel für notwendig erachtet, mit nahezu durchgehend geschlossenen Augen dauerhaft meine Arme rhythmisch zu bewegen, um meine Aufgabe zu erfüllen. Ich kann mich aber auch noch erinnern, dass es einen Moment der Verbindungsaufnahme zwischen dem Rettungssanitäter und mir gegebenen hat. An die empathische Zugewandtheit und sympathische verbale Ansprache des Rettungssanitäters in diesem Moment denke ich gerne zurück, da es mir verdeutlicht, dass ich kurz vor der Zwangseinweisung von meinem Umfeld für eine Beziehungsaufnahme erreichbar war.
Angekommen auf Station ging ich davon aus, im Himmel zu sein.
Ich erinnere mich, dass ich nicht einverstanden war, dass meine Eltern ohne mich mit dem Oberarzt über mich gesprochen haben, als ich den Raum betreten habe. Daher wurde ich dem Oberarzt gegenüber in dieser ersten Begegnung sehr laut und richtete dabei zur Unterstreichung meines Unmuts meine offene Hand wenige Zentimeter neben seinen Kopf. Der Oberarzt blieb überraschend ruhig, er schaute mich nicht an, sprach mich nicht an und ich verließ den Raum.
Von dem Oberarzt habe ich wenige Zeit später in einer Situation, in der ich ihn sehr zugewandt erlebt habe, eine Schlafmedikation erhalten. Diese nahm ich sofort vertrauensvoll ein und konnte nach langer schlafloser Zeit endlich wieder schlafen.
Zwischen 2000 und 2002 wurde ich noch zwei weitere Male stationär und einmal in die Tagesklinik aufgenommen.
Um darauf zu kommen, was mir geholfen hat, einen Genesungsweg zu beschreiten, würde ich zunächst die bald 25-jährige Behandlungskontinuität zu meinem eben erwähnten Psychiater nennen. Mittlerweile ist er Chefarzt und ich sehe ihn seit 2002 nur noch über die Institutsambulanz. Ich habe letztlich eine Diagnose erhalten, die den Schwerpunkt auf zu schlechte und zu gute Laune legt. Seit 2002 hatte ich viele Jahre keine psychotischen Symptome mehr. Zu der Zeit war es mir möglich mein Neuroleptikum auszuschleichen und ich nehme dieses Medikament seit vielen Jahren nicht mehr. Seit ca. 20 Jahren nehme ich nur noch morgens und abends ein Medikament, das dabei unterstützen soll, dass die Phasen der zu schlechten Laune und insbesondere der zu guten Laune nicht auftreten oder zu stark werden.
Eine weitere wichtige Person auf meinem Genesungsweg war meine langjährige Psychologische Psychotherapeutin. Sie war von Personen der Sozialpsychiatrie dahingehend beeinflusst, dass Psychotherapie auch bei Psychose-Patienten wirksam ist. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mich für eine ambulante Psychotherapie aufgenommen hat.
Meine niedergelassene Psychologische Psychotherapeutin hat sich zuweilen mit meinem Psychiater abgestimmt, was ich als sehr hilfreich empfand.
Meine Angehörigen sind zu nennen. Wie meine Eltern. Auch meine Großeltern standen stets zu mir, haben sich nie von mir abgewendet oder mir das Gefühl gegeben, dass ich meinen Platz in der Familie wegen meiner Erkrankung verlieren könnte. Zudem meine Freunde.
Nach der Absolvierung einer Ausbildung zum Groß- und Einzelhandelskaufmann, erinnerte ich mich an meinen Jugendtraum, Psychologie zu studieren.
Beeinflusst war ich denke ich zudem davon, dass die Sozialarbeiterin einer Arbeitsmaßnahme noch vor meiner Ausbildung, mich damals ermutigt hatte, ein Studium aufzunehmen.
Stark beeinflusst war ich bei meiner Entscheidung von dem Sozialpsychiater Prof. Dr. Thomas Bock, der in einem Buch, den Einsatz von Psychiatrieerfahrenen im psychosozialen/psychiatrischen Hilfesystem befürwortet hat. Eine Auffassung von Thomas Bock ist, dass Personen, die vom professionellen System keine Hilfe annehmen können oder wollen, von Psychiatrieerfahrenen erreicht werden können.
Ein wichtiger Aspekt meiner Motivation im psychosozialen/psychiatrischen Bereich arbeiten zu wollen, war und ist, anderen Menschen, die in eine vergleichbare Situation der absoluten Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit geraten sind wie ich damals, mitteilen zu können, dass dieser Zustand vorbei gehen wird.
Des Weiteren hat mir seit ca. 2011 mein ehrenamtliches Engagement in Vereinen geholfen, die sich für eine Weiterentwicklung des Versorgungssystems einsetzen. Die Vernetzung mit Gleichgesinnten hat mir sehr gut getan. Ich verstehe dadurch das Versorgungssystem besser.
Sehr glücklich war und bin ich darüber, im Jahr 2018 Vater einer Tochter geworden zu sein. Die gemeinsame Zeit bereitet mir große Freude.
Ich hatte vor der Schwangerschaft mit meinen Behandlern besprochen, ob ich ein verantwortungsvoller Vater werden könne. Dies wurde mir bestätigt.
Viel Vertrauen wirksam im psychosozialen/ psychiatrischen Bereich arbeiten zu können, erlangte ich durch eine Tätigkeit in einer Wohngruppe für sogenannte „Systemsprenger“ bzw. „Hoch-Risiko-Klientel“. Es gab einige wenige Kinder in Bremen, die das bestehende Hilfesystem überfordert haben. Die Antwort der Bremer Politik war diese Wohngruppe mit einem sehr hohen Personalschlüssel von 14 Vollzeitkräften für anfangs zwei Kinder und nach einigen Monaten fünf Kindern im Alter von acht bis 14 Jahren. Es waren den ganzen Tag über stets mindestens zwei Mitarbeiter:innen in der Wohngruppe.
Normalerweise führt zum Beispiel körperliche Gewalt gegenüber Mitarbeiter:innen einer Wohngruppe dazu, dass ein Kind eine Wohngruppe verlassen muss und eine andere Wohnform für das Kind gefunden wird. Wir als Team haben den Kindern hingegen sagen können, dass sie bei uns einen sicheren Hafen gefunden haben und sie in der Wohngruppe bleiben können werden. Uns Mitarbeiter:innen wurde mitgeteilt, dass wir in dieser Wohngruppe solange arbeiten sollten wie wir möchten und können, es allerdings nicht länger als zwei Jahre machen sollten. Wenn eine Person aus dem Team es nicht mehr ausgehalten hat, geschlagen, getreten, bespuckt, beleidigt usw. zu werden, wurde dieser Person bei dem Träger ein anderer Aufgabenbereich angeboten. Eines unserer Ziele war, die Kinder dabei zu unterstützen, nicht mehr gegen Hilfe ankämpfen zu müssen. Nach einer wilden Anfangszeit nahm die Gewalt der Kinder gegen Teammitglieder und sich selbst ab. Es ist uns letztlich gelungen, dass wir alle Kinder in dieser Wohngruppe halten und sich alle Kinder darauf einlassen konnten, in dieser Wohngruppe zu leben. Das Projekt wurde durch eine Professorin wissenschaftlich begleitet und sie ist für ihren Forschungsbericht zu positiven Ergebnissen gekommen.
Meine damalige pädagogische Leitung hat gesagt, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass wir als Teammitglieder in ein Gefühl der Ohnmacht kommen werden, da dieses Gefühl von den schwerst traumatisierten Kindern in manchen Situationen ausgelöst werden würde. Mittlerweile arbeite ich nicht mehr in diesem Projekt. Durch diese Tätigkeit kann ich heute grundsätzlich angstfrei in Beziehung mit Nutzer:innen des Hilfesystems treten.
Da mein Genesungsweg nicht stetig bergauf gegangen ist, muss ich erwähnen, dass ich auch nach 2002 viele Zeiten der sehr schlechten Laune und des Zweifelns erlebt habe. Diese Phasen führten zum Beispiel während des Studiums dazu, dass ich bezweifelte, im Hilfesystem wirksam arbeiten zu können. Denn mir erschien die Erfüllung meines Wunsches Patienten sagen zu können, dass es möglich ist, aus diesen Phasen heraus zu kommen, mal wieder als nicht möglich.
Auch während des EX-IN Kurses hatte ich Zeiten, dass ich überlegt habe, den Kurs abbrechen zu müssen, da ich der Meinung war, wegen privaten Umständen die Anforderung der eigenen Stabilität nicht ausreichend erfüllen zu können.
Hilfreich war für mich in diesem Zusammenhang, dass uns in dem EX-IN Kurs vermittelt wurde, dass kein Mensch zu 100% gesund und zu 100% krank ist.
Ich hoffe, dass ich mich in zukünftigen etwaigen Phasen der zu schlechten Laune, möglichst schnell daran erinnern können werde, dass diese Phase vorbei gehen wird und ich nach hoffentlich kurzer Zeit wieder in meine eigene Wirksamkeit zurückfinden werde.
Ich möchte noch folgende Lernerfahrung berichten. Es war lange Jahre mein Ziel keine Psychiatertermine mehr wahrnehmen und keine Psychopharmaka mehr einnehmen zu müssen. Das Medikament gegen zu gute und zu schlechte Laune habe ich in den letzten 20 Jahren des Öfteren an einem Abend, über mehrere Tage sowie zuweilen mehrere Wochen nicht genommen und keine negative Veränderung zuordnen können. Ich hatte mich mit dem Thema Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka beschäftigt. Vor ca. 4,5 Jahren habe ich entschieden mein Medikament auf eine Weise nicht mehr zu nehmen, wie man es auf keinen Fall machen sollte. Ohne Rücksprache mit meinem Psychiater und meinen wichtigen Angehörigen. Zudem habe ich nicht langsam und schrittweise reduziert, sondern habe es von einem Tag auf den anderen komplett nicht mehr genommen. Dies hat das Ende meiner damaligen Beziehung mitverursacht, so dass ich diesen Absetzversuch mittlerweile sehr bereue.
Ich habe dadurch bitter lernen müssen, dass zu dem Grundsatz zur Psychopharmakaeinnahme so wenig wie möglich, auch der zweite Teil aber soviel wie nötig, gehört.
Der trialogische Ansatz bei dem Thema Psychopharmaka ist für gelingende partnerschaftliche, familiäre und freundschaftliche Beziehungen denke ich sehr wichtig. Also neben einem gemeinsamen Entscheiden vom Psychiater und einem informierten Patienten über die Medikation sollten meiner Meinung nach auch die wichtigen Angehörigen bei der Entscheidungsfindung gehört und miteinbezogen werden.
Abschließend möchte ich noch zwei Punkte nennen.
Zum einen, dass Genesungsgeschichten in meinem EX-IN Kurs mir Mut gemacht haben. Denn das Versorgungssystem erscheint mir mancherorts wo einige Teilnehmer:innen Hilfe in Anspruch genommen haben, im Vergleich zu der Situation vor einigen Jahren und Jahrzehnten sehr viel besser geworden zu sein. Über diese Weiterentwicklung freue ich mich sehr.
Ich hoffe zudem, dass genesungsbegleitende Personen dazu beitragen werden, dass sich das Versorgungssystem in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zum Positiven weiterentwickeln wird. Ich hoffe, dass wir dabei eine gemeinsame Kraft entwickeln.
Mein langer Weg
Ana 2022
Ich wurde in den 1960iger Jahren als Ana M.* in einer wunderschönen Stadt an Rhein und Mosel geboren. Ich wuchs in sehr beengten Verhältnissen auf, lange Zeit hatte ich keinen Raum für mich alleine. Ich teilte mir das Zimmer mit meinem älteren Bruder, nachts musste ich im Schlafzimmer meiner Eltern schlafen. Kam ich morgens nicht rechtzeitig aus dem Bett, war ich auch im Bad nicht alleine. Wenn ich von der Schule kam, wusste ich nicht, was mich erwartete. Irgendjemand ist immer ausgetickt. Meine Mutter war häufig überfordert, mein Vater stand ständig unter Druck, wegen der allzeit hohen Erwartungen an ihn.
Erst als ich 18 Jahre alt wurde und ein eigenes Zimmer bekam, lernte ich mich abzugrenzen. Mein eigenes Zimmer nach meinem Geschmack einzurichten, war für mich ein Stück persönliche Freiheit. Ich habe mich gefreut, wie ein Honigkuchenpferd. An der Wohnungstür waren zwei Schlösser und jeder Ausgang von mir wurde streng kontrolliert. Ebenso durfte niemand zu mir kommen, denn meine Mutter war fest davon überzeugt, dass fremde Leute die Privatsphäre meiner Familie stören, eine Bedrohung für mich darstellten und sie mich ja schließlich beschützen muss. Ich wusste nie, ob das was sie sagte, ein seelischer Knacks aus dem zweiten Weltkrieg war oder ob es der Realität entspricht, also versuchte ich das rauszufinden. Wenn ich für die Menschen, die ich draußen kennen lernte, Partei ergriff, behauptete meine Mutter einfach, dass die Menschen da draußen nicht richtig sind. Nur sie hätte die richtige Einstellung. Zuhause wurde alles durch den Arztberuf meines Vaters überschattet, auf den wir zwar alle sehr stolz waren, doch, wenn er jemanden nicht retten konnte und selber damit nicht klarkam, mussten wir uns das schon im Kindesalter angucken und anhören. Wir sollten dankbar sein dafür, dass wir gesund sind.
Es gab zuhause viel Streit wegen meines Bruders. Dieser sollte unbedingt das Abitur machen, weil er schließlich der Mann war, der die Familie ernähren sollte. Er hatte aber Angst vor den anderen Schulkindern und schaffte es deshalb nicht, die allgemeine Hochschulreife zu erlangen. Ich hingegen wollte unbedingt diesen Abschluss und weiterkommen. Meine Eltern hielten das aber für eine totale Extravaganz von mir, weil ich schließlich als Frau so etwas gar nicht benötige. Also musste ich immer und stets um mein Weiterkommen kämpfen, um nicht stehen zu bleiben. Als ich 11 Jahre alt war, wurde mein Vater berufsunfähig, was aber nicht nach außen dringen durfte. Meine Eltern bekamen Eheprobleme, stritten sich täglich und meine Mutter fing an zu trinken. Irgendwann klappte sie nur noch zusammen. Wenn meine Mutter betrunken war, passierten manchmal schlimme Dinge. Manchmal entschuldigte sie sich im Nachhinein bei mir oder mein Vater erklärte mir ihr Verhalten aus seiner medizinischen Betrachtungsweise. Dies half mir, mit den schrecklichen Ereignissen besser umgehen zu können. Mein Vater steckte meine Mutter schließlich in die Entgiftung. Als meine Mutter wieder rauskam, war sie eine verhärmte Frau. Sie machte meinem Bruder und mir Vorwürfe: Wir wären schuld, dass es so weit mit ihr gekommen wäre. Morgens und abends hatte ich eine gute und liebevolle Mutter, die mir viele Lebensweisheiten mit auf den Weg gab. Sobald sie in der Rolle der Arztehefrau war, gab es Konflikte und meine Mutter war nur noch überfordert. Das Einzige in meiner Familie, was ich als nicht chaotisch und als sehr heilsam empfand, war das allabendliche Gebet. Das war wie der allabendliche Segen und half mir einzuschlafen durch dessen Zuversicht.
Ich fühlte mich in diesem Elternhaus sehr isoliert und wartete auf den Märchenprinzen, der mich auf sein Pferd lädt und in sein Märchenschloss entführt. Kurz vor meinem 16. Lebensjahr kam er dann auch. Er kämpfte hart um mich und schaffte es, meine Eltern von sich zu überzeugen. Ich spürte einen Hauch von Freiheit und fühlte mich großartig. Die Welt meines Elternhauses verblasste allmählich und wurde durch seine Welt ersetzt.
Eines Tages kam er wie immer, um mich abzuholen, und sagte mit ernster Miene, dass er jetzt mit mir Schluss machen muss, denn sonst schafft er sein Studium nicht. Er sei emotional total abhängig von mir und in meinen Händen wie ein Stück Butter. Wohl erzogen wie ich war, gab ich ihm Recht, dass das Studium total wichtig ist und tröstete dann auch noch den weinenden Jochen*, obwohl ich diejenige war, die gelackmeiert war. Diese Begebenheit setzte einen Prozess in mir in Gang, der sich anfühlte wie der freie Fall. Nur dass der Aufprall einfach nicht kommen wollte und dadurch eine Wunde in mich gerissen wurde, die einfach nicht heilen will.
Nachdem mir das passiert war, stand mein Entschluss fest: Keinen Mann mehr, niemals heiraten und keine Kinder. Ich fing an zu lernen wie eine Gestörte, denn ich hatte es durchgesetzt, dass ich nach meiner Lehre als Arzthelferin (welche selbstverständlich in der Praxis meines Vaters stattfand) wieder auf das Gymnasium gehen darf, um dort mein Abitur zu machen. Denn das Abitur war der einzige Weg dieses chaotische Elternhaus zu verlassen: Wer das Abitur hat, muss studieren und dazu muss man ausziehen, um in einer Universitätsstadt zu lernen.
Da ich im Zentrum einer wunderschönen Stadt zwischen Sektkellerei und einer Tankstelle groß geworden bin, wollte ich wissen, wie es denn in der Natur und mit den Tieren ist. Ich machte ein landwirtschaftliches Praktikum mit Zwischenprüfung zum Landwirt. Ich habe alles klargemacht, dass ich zusammen mit einer Freundin in eine Stadt am RheinLandwirtschaft studiere.Meine Eltern waren inzwischen von meiner Heimatstadt in eine 800 Kilometer entfernte Großstadt gezogen und meinten: Entweder du studierst hier bei uns oder wir bezahlen dir das Studium nicht! Daraufhin kreuzte ich Medizin an, denn wenn man da einen der begehrten Studienplätze ergattern kann, darf man nicht wählerisch sein, welche Universitätsstadt das ist. Ich wollte so weit weg wie möglich und studierte in drei verschiedenen Bundesländern Medizin. 1996 war es dann schließlich soweit ich fuhr mit der Urkunde in der Hand in mein Elternhaus. Wertgeschätzt wurde das nicht. Mein Vater stand da und sprach mit seinem Hund der unten am Boden saß: „Ei, jetzt kommt die Kollegin!“ Das machte mich sauer und ich sagte ihm, dass er mir bei meinem Studium nie geholfen hat. Was er dann sagte hat mich tief verletzt: Du weißt genau, dass es deiner Mutter und mir lieber gewesen wäre, wenn du nach deiner Lehre zur Arzthelferin etwas Solides getan hättest und geheiratet und Kinder bekommen hättest. Hilflos sagte ich ihm: ja, aber andere Eltern sind stolz, wenn ihre Kinder Medizin studieren. Da setzte er noch einen drauf und sagte: Wir kommen doch nicht vom Proletariat, wo die Eltern von dem leben was die Kinder machen. Ausgestattet mit den verletzenden Aussagen meines Vaters, der Unfallchirurg war, startete ich in die Facharztausbildung zur Allgemeinärztin. Ich bin total stolz darauf, dass ich diese geschafft habe, denn es begegneten mir immer wieder männliche Vorgesetzte oder Kollegen, die mir unterschwellig oder direkt die gleichen Dinge sagten wie mein Vater. Das verunsicherte mich oft stark und warf mich zum Teil aus der Bahn.
Mein Bruder wurde an einer gutartigen Erkrankung operiert. Als ich fünf Monate später anrief, teilten mir meine Eltern mit, dass er ohne Krücken nicht mehr laufen könne, dass machte mich misstrauisch. Ich fuhr zu meiner Familie. Dort habe ich dann eine metastasierende Krebserkrankung bei meinem Bruder diagnostizieren müssen. Ich setzte alles in Bewegung, aber man konnte ihm nicht mehr helfen. Ich leistete meinem Bruder vier Tage und drei Nächte Sterbebegleitung und versuchte ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Aber erst als er seinen alten Freund Hans, den er sehr geliebt hat, bei sich am Bett hatte, konnte er loslassen und konnte er sterben.
Bei einer meiner Weiterbildungsstellen fand ein Vorstellungsgespräch bei einem internistischen Chefarzt statt. Ich beichtete ihm, dass das meine erste internistische Stelle sei und er sagte, dass das nichts mache. Ich sei ihm sympathisch und er stelle mich ein. In den darauffolgenden Monaten brachte er mir viel bei und ich war so beeindruckt und dankbar, dass ich mich in ihn verliebte. Einige Monate später passierten Dinge, die dazu führten, dass ich gegen diesen Chefarzt um mein Recht kämpfen musste, damit meine Weiterbildung nicht gefährdet wurde. Das war sehr schlimm für mich. Am Ende bekam ich zwar mein Recht, aber dafür war ich restlos mit den Nerven fertig. Ich zog mich in eine psychosomatische Fachklinik zurück und sagte niemanden Bescheid. An einem Freigang-Wochenende lernte ich ausgerechnet auf einem Schützenfest Arno* kennen, der sich in den folgenden Monaten um mich bemühte. Nach dem Klinikaufenthalt setzte ich meine Facharztausbildung fort. Ich hatte schon eine Anschlussstelle in meiner Heimat dem Rheinland, sagte diese aber Arno zuliebe ab, um in derOberpfalz weiter zu arbeiten. Im Dezember 2002 legte ich vor der bayrischen Landesärztekammer meine Facharztprüfung ab. 2003 übernahm ich eine Allgemeinarztpraxis in der Nähe von meinem LebensgefährtenArno, wo ich schon eine Zeitlang wohnte.
2005 hatte ich schlagartig zwei pflegebedürftige Eltern, die in der 220 km entfernten Großstadt lebten und unversorgt waren. Beim Versuch die Situation zu retten, brach ich mir den Knöchel und musste im Rollstuhl sitzend meine Praxis machen. Schließlich kam mein Vater zu mir aufs Land in ein Altenheim, wofür meine Mutter mich abgrundtief hasste. Sie wollte in kein Altenheim und ich hätte ihr den Ehemann weggenommen. Eines Tages starb meine Mutter alleine in der Großstadt an einer Magenblutung. 2012 starb mein Vater, was bei mir zu einer schweren Depression führte. Um das vor der Dorfgemeinschaft und der eher konkurrierenden Ärzteschaft meines Bezirkes zu verbergen, ließ ich mich heimlich 200km südlich von meinem Praxissitz behandeln, damit niemand etwas davon mitkriegt. Anschließend legte ich meine Praxis zum Zwecke einer Weiterbildung still.
Ich begann einen Masterstudiengang. Aber als ich vier Jahre später diesen mit der Masterarbeit beenden sollte, drehte ich total durch, denn ich bekam comuptertechnisch nichts auf die Reihe und richtete immer mehr Chaos auf meinem Rechner an. Ich hatte nahezu zwei Wochen nicht mehr richtig geschlafen und litt unter einer großen inneren Unruhe. Schließlich kam der Zeitpunkt wo ich merkte, dass ich selbstgefährdet war und das machte mir große Angst. Ich bat einen mir bekannten Arzt im Vertrauen, mich so schnell wie möglich in die Psychiatrie einzuweisen, was dieser auch tat. In der Psychiatrie fasste ich den Entschluss, in die Nähe meiner Lieblingsinsel zu ziehen, denn nur diese Insel mit ihrer Alleinlage und ihrem 70 km breiten Wassergürtelschafft es, mich von allem abzugrenzen was mir weh tut und was ich selber nicht schaffe, von mir abzugrenzen. So kam ich in eine Stadt im Norden und war meiner Lieblingsinsel so nah wie möglich. Wenngleich es nach 17 Jahren Zusammenleben nicht einfach ist, sich alleine durchzukämpfen, so sehe ich für mich mit der Diagnose bipolare Störung aktuell keine andere Möglichkeit, erst mal alleine herauszufinden, was ich will und was ich nicht will, was mir guttut und was nicht. In dieser Stadt im Norden gibt es viele soziale Probleme, aber auch ein großes Angebot an sozialen Hilfen für seelisch kranke Menschen. Als Genesungsbegleiterin möchte ich Hilfe zur Selbsthilfe geben und zur Entstigmatisierung psychischer Krankheiten beitragen.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass es für mich und meinem Lebensweg immer wieder die einzige Lösung war, aus schlechten Situationen und oder Zuständen heraus zu gehen und mich immer wieder neu zu definieren. Des Weiteren sind mir in meinem Leben auch immer wieder Menschen begegnet, die meine Not sahen und mir geholfen haben. Was mich auch trägt, ist mein Glaube an Gott und Glaubensgemeinschaften, wo ich nicht andauernd kämpfen muss, sondern so sein darf wie ich bin. Die Natur und die Tiere in meiner Lebensgemeinschaft sind eine Wohltat und bereichern mein Leben.
*Namen geändert
Der Aussteiger
anonym
Zuerst: Ich hatte eine strenge, aber auch lockere Erziehung genossen. Ich war als Kind schon moppelig und sehr schüchtern. Ich hatte keine richtigen Freunde und bin in der Schule immer gehänselt worden, wegen meines Übergewichts. Während meiner Kindheit hat mein Vater mir ständig eingeprägt, ich sollte mich doch endlich wehren. Ich hatte mit meinem Vater nur Gespräche über Gewalttaten, die Er begangen hatte, und ich sollte doch endlich aufwachen. Er erzählte mir immer, mit einem Lächeln im Gesicht, wie er sich schon in jungen Jahren mit der Polizei Schlägereien lieferte und sich jedes Wochenende mit seinen Freunden in Kneipen und Diskotheken Auseinandersetzungen regelrecht suchte. So war Er mein Vorbild und ich wollte ihn immer Stolz machen und so sein wie Er. Deshalb habe ich mit 17 Jahren schon angefangen, mich in der Bahnhofsnähe rumzutreiben. Ich wollte nicht mehr der kleine dicke David* sein, der sich herumschubsen lässt. Ich wollte ausbrechen aus meinem Opferleben und habe in der Kneipe am Bahnhof meine ersten Erfahrungen mit Alkohol und Gewalt gemacht.
Also kam mir zugute, dass mich bei einer volltrunkenen Kneipenschlägerei ein berüchtigter Hooligan beobachtete und mich nach der Aktion ansprach. Er hat mir einen nach dem anderen ausgegeben. Korn mit Cola, sogenannten Hooligan-Champagner. Er war so begeistert von meiner Aktion, dass er mir von zahlreichen Schlachten mit gegnerischen Hooligans bei organisierten Treffen erzählte, um zu zeigen, wer die Nummer Eins bei den Fußball-Schlägereien war. Er lud mich ein, das nächste Wochenende mit zu kommen zu einem Match mit den gegnerischen Hooligans.
Ein paar Jahre zog ich so als Hooligan, zu Auswärtsspielen und Heimspielen, grölend und gewaltbereit durch die Städte. Mit 22 Jahren zog ich um, ich hatte mit der Hooligan-Szene vor Ort aufgehört und lebte als Präsident in einem Rocker-Club mein gewalttätiges Leben aus. Ich machte mit meinen Club-Brüdern die Partystraße unsicher. Mein bester Freund und Club-Bruder hat zu diesem Zeitpunkt bei mir gewohnt. Bei einem vom Gremium arrangierten, sogenannten harmlosen Übergabe-Treffen auf einem Rastplatz auf der Autobahn mit einem Biker-Club, mit denen wir sozusagen Waffenruhe hatten, denn die Feinde meines Feindes, sind meine Freunde, wurde ein Biker sehr ungeduldig und zog eine Waffe und bedrohte mich damit.
Am nächsten Tag fuhr ich alleine mit dem Auto zu meinem Vater, um ihn zu besuchen. Ich habe es zumindest versucht, da an einer Ampel meine Fahrertür aufgerissen wurde und 5 gewalttätige Nazis mich aus dem Auto zogen. Ich reagierte zum Glück blitzschnell und konnte ohne lebensbedrohliche Verletzungen entkommen. Irgendwann begann ich, nicht mehr alleine aus dem Haus zu gehen. Für mich war es schon Alltag und ganz normal, dass mich immer mein bester Freund begleitete. Ich fing aber an, hinter jeder Ecke und jeder Person, der ich begegnete, eine Gefahr für Leib und Leben zu sehen. Ich freundete mich, eine Zeit später, mit der Geschäftsführerin eines Lokals an und verbrachten viel Zeit privat mit ihr.
Eines Tages bat Sie mich mal zu einem Psychiater zu gehen, da es nicht normal wäre, wie ich mich verhalten würde. Ich sah keine Notwendigkeit zum Arzt zu gehen, da es doch ganz normal wäre, wie ich mich verhalten würde. Ihr zur Liebe trat ich murrend und schlecht gelaunt den Weg zum Psychiater an. Sie begleitete mich, damit ich nicht abhauen und flüchten konnte. In dem Gespräch mit dem Psychiater stand für ihn schnell die Diagnose, schwere paranoide Schizophrenie mit Depression und Psychose, fest. Als ich die Diagnosen hörte, kam auf einmal bei mir der Gedanke, so nicht mehr weiterleben zu können und ich teilte meine Gedanken, die mir richtig Angst machten, weil ich den Zustand nicht verstand, dem Arzt mit. Ich wurde ziemlich nervös und zitterte am ganzen Körper. Ich fühlte mich zum ersten Mal richtig verletzlich und labil. Der harte Präsident und ehemalige Hooligan, der so hart sein wollte wie sein Vater, und ihn stolz machen wollte, war auf einmal ein kleiner verletzlicher Junge.
Der Arzt handelte sofort, ohne zu überlegen und rief einen Krankenwagen, der mich sofort in die geschlossene Psychiatrie brachte. Dort war ich dann 2 Monate auf der Geschlossenen, wo ich nur mit Tavor vollgepumpt wurde, und weitere 5 Monate auf der offenen Station.
Als ich das erste Mal in der Klinik war, haben sich all meine Freunde und Club-Brüder von mir distanziert und mich fallen gelassen. Die Führungsebene vom Gremium hat eine Sitzung einberufen und einstimmig beschlossen, dass ich den Club im Guten verlassen darf, obwohl ich ja sehr viel Wissen über die illegalen Geschäfte hatte. Sie meinten nur zu mir: Psychopathen können und wollen wir im Club nicht dulden. Selbst mein Held, mein Vater, wandte sich von mir ab. Ich war für ihn ein Weichei und kein richtiger Mann. Sein Spruch war: Du bist nicht mein Sohn, nur der Sohn deiner Mutter.
Im Krankenhaus und nach dem Umzug zurück in meine Heimatstadt in eine betreute Wohn-WG, fing ich zum ersten Mal an, über meine Schandtaten und mein gewalttätiges Leben nachzudenken. In der WG zog ich mich dann zurück und versuchte über die Jahre, mir das Leben mit einer Überdosis Schlaftabletten, da ich schlaftablettenabhängig war, und Alkohol zu nehmen. Ich kann gar nicht mehr aufzählen wie oft.
Brief:
„Ich weiß, dass ich ein schlechter Mensch bin und hasse mich sehr dafür, was ich in der Vergangenheit anderen Menschen angetan habe. Die ganzen Menschen, die ich verletzt habe, den Fehler mit den Hooligans und dem Rocker-Club. Und Ich soll ein liebevoller, guter Mensch sein? Ich kann mir diese Taten nicht verzeihen. Es tut mir auch so unendlich leid, dass ich nicht für meinen Sohn ein richtiger liebevoller Vater sein durfte, um ihm Liebe zu geben. Aber ich weiß, dass Er es ohne mich besser hatte. Aber es zerreißt mich sehr, ihn nicht aufwachsen sehen zu dürfen, seine ersten Schritte, sein erstes Wort. Seine erste Freundin. Selbst nach der Trennung meiner Eltern, das war vor der ersten Klinik Erfahrung, habe ich mich schlecht meiner Mutter gegenüber verhalten. Ich habe mich auf die Seite meines Vaters gestellt und sie verletzt und ihr sehr weh getan. Ich war sehr leicht manipulierbar und ein Ja-Sager und ich ließ es auch noch zu. Ich war schwach und habe viele falsche Entscheidungen getroffen. Ich enttäusche einfach jeden. Ich habe gar nicht das Recht glücklich zu sein, oder sogar die Berechtigung zu Leben. Ich wollte doch nur so ein richtiger und harter Mann sein, wie mein Vater, keine Gefühle und Schwächen zeigen. Aber das war und bin ich nicht. Im Grunde, ganz tief in mir, wollte ich nie so sein wie mein Vater, aber wie gesagt, ich habe es zugelassen, dass man mich manipuliert. Ich weine mich sehr oft in den Schlaf.
Heute kann ich eigentlich mit Glück und Erleichterung sagen, wäre ich nicht krank geworden, dann wäre ich jetzt entweder im Knast oder tot.“
Diese Erkenntnis hat mir sehr geholfen, mein Denken, meine Einstellung und mein Leben komplett zu verändern und umzukrempeln und mein Leben heute komplett selbst zu gestalten und Ziele zu setzen.
* Name geändert
Achterbahn
Irene Olthoff
Ich erinnere mich, wie ich im Bus saß und versuchte, den Moment der Ruhe zu genießen. Zuhause gab es viel Streit. Mein Bruder „sollte sich eine Scheibe von seiner kleinen Schwester abschneiden“, so mein Vater. Gott, wie sehr ich diesen Satz hasste, ich wollte nicht besser sein. Papa wurde oft sehr laut und es war schwer zu ahnen wann. Teilweise reichte eine leere Saftpackung in der Küche aus, welche nicht vernünftig entsorgt wurde, und er explodierte. In einer Jugendtherapiestunde malte ich ihn als Krokodil, ich empfand damals, er würde plötzlich schnappen. Er schnappte selten nach mir, ich hatte gute Noten und war weitestgehend brav. Ich hatte gelernt mich zu ducken, saß nur auf der Treppe, sah zu und weinte. „Das Mädchen auf den Treppenstufen weint, weil alles in ihr schreit und sie nicht schreien kann“, lautete Jahre später eine Zeile in meinem Liedtext.
Zurück zum Bus, auf dem Weg zur Schule. In der Schule fühlte ich mich oft einsam. Andere Mitschüler lästerten über mich. Im Dschungel der Gerüchte, machten sich die wenigsten noch Mühe, mich kennen zu lernen. Streberin, Lesbe, Schlampe. Im Bus ließ man mich in Ruhe. Ich sank in meinem Sitz ein, kniff die Augen zusammen und fuhr von Hölle zur Hölle. Am 28. Februar 2006 schrieb ich in mein Tagebuch: „Mit den Herbstferien begann das alles eigentlich, mit dem allein sein und dem immer schlimmer werdenden Mobbing. Da war Stress in der Clique und ab da habe ich nicht mehr richtig dazugehört. Nirgendwo zugehört. Ich weiß nicht, aber noch so ein Dienstag, an noch sowas möchte ich nicht denken. Ich möchte nicht daran denken, was ich mir dann antun würde.“
Ich würde sagen, da setze ich den Startpunkt meiner Krankheitsgeschichte. Ich fand eine Scherbe und begann das Ritzen, ich hasste mich und ich hasste die Welt. Ein guter Monat noch und ich würde meinen 14. Geburtstag feiern. Zum Glück gab es dann doch noch Dinge die mir Halt gaben. Ich sang im Chor, übte die Kampfsporttechnik Jiu-Jitsu und lernte im Oktober meinen damals besten Freund und jetzigen Mann auf einem Jahrmarkt kennen. Ich wurde selbstbewusster, begann meinem Vater auch mal die Stirn zu bieten, ging viel auf Partys. Meine Eltern trennten sich, meine Mutter und ich zogen in eine neue Wohnung. Mein inzwischen erwachsener Bruder bezog die Wohnung nebenan, er benahm sich unselbständig, aggressiv und frauenverachtend. Leider entwickelte ich auch Hauterkrankungen und Schlafstörungen, sodass ich mein Abitur abbrechen musste. Da ich schon immer sehr ehrgeizig war, war das nicht leicht für mich. Als meine Mutter ihren neuen Mann kennenlernte und ich sie für sicher befand, flüchtete ich in eine neue, fremde Ortschaft, um mir ein Leben ohne ständigen Spannungen und Konflikten aufzubauen. Dort hatte ich einen Ausbildungsplatz zur Restaurantfachfrau, den ich aber alsbald verlor. Ich schlug mich durch, zu stolz um bei den Eltern anzurufen. Beantwortete Formular für Formular und ging mit 2€ einkaufen, weil der Hartz4 Antrag noch nicht bewilligt war. Bauernbrot für 60ct, Frühlingsquark 45ct. Nachdem ich meinen zweiten Ausbildungsplatz verlor und mich leer fühlte, diagnostizierte mein Hausarzt eine posttraumatische Belastungsstörung. Ein erster stationärer Aufenthalt folgte.
Zusammengefasst folgten weitere Klinikaufenthalte, ich litt 2013 unter einer Psychose mit anschließender Depression, auch 2016 hatte ich ein schweres Jahr. Ich war nicht nur krank, das ist missverständlich. In gesunden Phasen schloss ich meine Ausbildung zur Verkäuferin ab, das erste Lehrjahr zur Ergotherapeutin, ich zog mit meinem Freund zusammen, wir heirateten, es war eine verdammt tolle Hochzeit, und zwei Jahre später wurde ich Mutter eines wundervollen Sohnes. Vor der Geburt war ich 3 Jahre lang weitestgehend medikationsfrei stabil. Nach der Geburt kippte ich, unter dem Druck ihn in der Kinderklinik zu betreuen, in eine heftige psychotische Manie mit anschließender Depression. Mein Sohn war 6 Wochen alt, er hatte eine schwere Entzündung. Durch Corona bekam ich in der Kinderklinik kaum Unterstützung, parallel lief unser Umzug in eine größere Wohnung. Mein Mann übernahm die Stellung und aus der Hilflosigkeit heraus wurde ich in die Geschlossene eingewiesen.
Ein kleiner Exkurs, denn Psychosen sind wirklich schwer nachvollziehbar. Ich möchte es aber versuchen zu erklären. Zuerst kommt das Gedankenkreisen, das kennen denke ich viele. Man zermartert sich den Kopf, über die Oma die gestorben ist und was man ihr eigentlich noch sagen wollte, irgendeinen Streit mit Kollegen/ Familie/ Freunde, der To-Do und dann ist da auf einmal Punkt 2: Der Schlafentzug. Irgendwann fühlt man sich wie besoffen. Und jetzt kommt die Psychose. Es ist wie Träumen. Irgendjemand spricht deine Gedanken laut aus, hat aber in Wirklichkeit nichts gesagt. Du hast Eingebungen, das und das tun zu müssen oder etwas Besonderes zu wissen. Fühlst dich vielleicht auch verfolgt. Mir kommt es manchmal so vor, als vergisst das Gehirn vor lauter Überforderung zu filtern und zu sortieren. Und auf einmal siehst du Dinge, die da nicht sind. Die fehlenden Filter öffnen auch alle Deckel und der Fußgänger hinter dir beschimpft dich und macht dir Angst weil DU dir Angst machst, weil deine eingerosteten Glaubenssätze in dieser Psychose auf einmal so präsent werden, dass sie laut werden in Form von Stimmen hören und was noch alles. Das kann ein richtiger Horrortrip sein.
Oder auch pushen, wenn man das Gefühl hat Hilfe zu bekommen und Jesus zu begegnen. In meiner zweiten Psychose fühlte ich mich teilweise sogar erleuchtet. Schlimm war es trotzdem. Auch für die Angehörigen, die mich als „wach Träumenden“ nicht mehr erreichen konnten.
Depressionen sind etwas ganz anderes.
Auf den ersten Blick könnte man annehmen, sie wären einfacher. In meinen Depressionen war ich ansprechbar, hatte einen klaren Realitätsbezug. Und doch wieder nicht. Meine Welt war ohne Farben, ohne Gefühle. Es gab auch keine Trauer oder Wut, da war nur dieses Nichts. Wie das Nichts aus der unendlichen Geschichte, einem Buch von Michael Ende. In seiner Geschichte geht es um ein Nichts, welches sich ausbreitet, die Akteure können es aber nicht anschauen. Ihre Augen können es nicht ertragen ins Nichts zu blicken. Das ist eine Depression für mich. Gestand mir mein Mann seine Liebe, konnte ich es nicht spüren. Alles war bedeutungslos und jede Depression fühlte sich an wie für immer.
Zum Glück habe ich inzwischen mithilfe meiner Erfahrung an Halt gewonnen. Ich weiß inzwischen um die zeitliche Begrenzung depressiver Phasen, ich habe sie verinnerlicht, und diese Gewissheit trägt mich durch jeden noch so schlimmen Gedanken. Ich habe sooft erfahren, dass eine Depression nicht für immer andauert, dass ich mich selbst in einer solchen Phase darauf verlasse und mich daran festhalten kann.
Und dann wärmen die ersten Sonnenstrahlen mein Gesicht. Sie taten es schon die ganze Zeit, aber auf einmal sickert ein klein wenig von diesem Licht durch meine Haut, statt an den Mauern der Krankheit abzuprallen. Tag für Tag wird es besser.
Eines Morgens wärmt das Licht wieder mein Herz.
Vielleicht nochmal ein Schlusswort dazu, wie ich genesen bin. Es gab einen Menschen der mich liebte, noch bevor ich es selbst konnte. Ich hatte einen aufmerksamen Hausarzt, der hinsah und mir einen guten Klinikplatz verschaffte. Ich hatte den Mut umzuziehen. Ich versuchte mich aus der Verantwortung meiner Familie gegenüber zu lösen. Ich als Kind hatte sie eigentlich nie, aber manchmal fällt es mir immer noch schwer, das einzusehen. Ich betete und Gott gab mir Kraft. Ich stand immer wieder auf. Ich rannte mit Anlauf in die Scheiße, machte Fehler, um dann wieder von vorne anzufangen. Apropos rennen, ich rannte viel. Im wahrsten Sinne des Wortes, Bewegung war für mich stets ein Strohhalm. Wenn ich nicht weiterwusste, fragte ich nach Hilfe. Die Reise ist nicht vorbei, zum Glück, denn das heißt ich bin am Leben. Ich bin hier und ich bin ok. Und ich finde, ich kann stolz auf mich sein.
Mutterschaft
Irene Olthoff
Mutterschaft.
Mutter.
Liebevoll, schenkt Geborgenheit. Fürsorge. Immer für das Kind da. Hat Kraft. Weiß, was für das Kind richtig ist. Kann ruhig bleiben. Ist achtsam. Kocht gutes, gesundes Essen. Geht in ihrer Aufgabe auf, findet Erfüllung darin. Kriegt alles unter einen Hut. Weiß Rat. Wiegt glücklich ihr Baby in den Schlaf.
So viele Assoziationen. Meine Geschichte als Mutter fing anders an.
Mein Kind war ein Wunschkind, welches ich mich traute, trotz bipolarer Störung zu erträumen. Ich blickte auf Jahre der Stabilität zurück, eine feste Partnerschaft. Ich hielt einen engen Draht zu Ärzten und Vertrauten. Organisierte vorab Notfallpläne und eine Familienhebamme, welche mich engmaschiger betreuen konnte. Und fiel trotzdem durchs Netz.
Während meiner Schwangerschaft kam Corona auf und mit dem Virus forderten die ersten Kreissäle von den Gebärenden, die Situation alleine zu meistern und ohne Hilfe in die Krankenhäuser zu kommen. Das verunsicherte mich stark, und ich schmiedete Pläne hinsichtlich einer Hausgeburt. Zum Glück durfte mein Mann mich dann doch begleiten, aber die Geburt verlief mit Komplikationen. Nicht auszudenken, wie ich das Zuhause ohne medizinische Versorgung bewältigt hätte. Mein Sohn wies unter der Geburt einen gefährlich erhöhten Herzschlag auf und es musste ein Antibiotikum injiziert werden. Des Weiteren wurde eine PDA eingesetzt, dann ein Wehenmittel, da diese zu schwach wurden, schließlich war ein Notkaiserschnitt vorbereitet. Mein Sohn saß zu tief, sodass der Kaiserschnitt nicht mehr möglich war. Es erfolgte eine Zangengeburt mit Dammriss dritten Grades. Mit meinem Sohn auf dem Arm wurde ich genäht, ich verlor viel Blut und sank völlig entkräftet mit ihm ins Krankenhausbett.
Die geplante ambulante Geburt, sprich nach der Geburt zuhause versorgt zu werden, war nicht möglich. Dafür waren meine Werte zu schlecht. Trotzdem empfahl mir eine Hebamme im Krankenhaus mein schreiendes Kind immer weiter zu stillen, die ganze zweite Nacht hindurch (in der ersten Nacht entband ich). Ich dürfe nicht aufgeben, das ständige Anlegen würde schließlich dafür sorgen, dass die Milch einschießt. Als mein Kreislauf sich stabilisierte und ich äußerte, ob man mir mein Kind abnehmen könnte, damit ich duschen könne, kam prompt die Antwort: Duschen wird überbewertet.
Ich kam völlig fertig nach Hause. Ungefähr 10 Tage später schrieb ich ins Tagebuch:
„Im Flur schreit ein Baby. Mein Baby. Ich sitze hier im Arbeits-/Kinderzimmer, die Wohnung ist viel zu klein. Der Umzug steht bevor, schönes Reihenmittelhaus, aber es wird wohl anstrengend. Mein Mann kommt aus dem Bad, nimmt das Baby aus dem Kinderwagen, kümmert sich liebevoll. Ich war gerade mit dem Kleinen spazieren. Im Flur abgestellt, geflüchtet. Ich fühle mich leer, ausgelaugt, erschöpft. Alles wirkt sinnlos. Schwer. Der April ist nahezu vorbei, mein Sohn kam Ostern zur Welt, bzw. stimmt nicht ganz, ich brachte ihn zur Welt. Es waren die schlimmsten Schmerzen meines Lebens. Darauf folgte ein würdeloser Klinikaufenthalt aufgrund meiner schlechten Werte, dann konnte ich heim. Funktionieren musste ich trotzdem, trug plötzlich die Verantwortung für so einen kleinen Menschen, dabei war ich doch selbst noch so schwach. Versuchte trotzdem, ihn durch meinen Körper zu ernähren. Nach ein paar Tagen gut gestillt mit Muttermilch nahm er trotzdem wieder rasant ab. Jetzt füttern wir zu. Ich stille noch zusätzlich. Manchmal habe ich keine Lust ihn anzulegen. Mein eigenes Kind. Mein Mann kriegt ihn nicht beruhigt, er schreit und es nervt. Es tut weh so zu denken, ich fühle mich schuldig, hab keine Kraft mehr. Zwischen meinem Partner und mir hängt der Haussegen schief. Achtlose, verletzende Worte. Wo sind die Lorbeeren für meine Leistung? Eine liebevolle Streicheleinheit? Respekt und Anerkennung? Als wäre es selbstverständlich, dass ich funktioniere, ist ja schließlich mein Kind, nicht der Rede wert. ¼ Liter Blut weg, egal. Dammriss und Schnitt, Grad 3, egal. Und dazu noch ne fette Mandelentzündung, egal, sei gefälligst eine glückliche Mutter! Und mein Mann ist nicht so zu mir wie vorher, ich vermisse ihn so sehr. Es fühlt sich an als wären wir jetzt Arbeitskollegen und ich fühle mich so einsam. Alle gratulieren mir. Manchmal möchte ich einfach nur zurück. Zurück zu einem Leben, wo ich nicht wusste, was Kinder kriegen bedeutet. Wie heftig eine Geburt sein kann. Wo ich der wichtigste Mensch in meinem Leben bin und sich die Menschen um mich herum nach mir erkundigen und mir Aufmerksamkeit schenken. Ich kriege es fertig eifersüchtig auf meinen eigenen Sohn zu sein.“
Der Tagebucheintrag ist über 3 Jahre alt und das Abtippen wühlt mich auf. Im Rückblick erkenne ich klar, dass ich eine postnatale Depression hatte. Ich mache mir keine Vorwürfe mehr deswegen, auch meinen Angehörigen nicht. Die Veränderung ein Kind zu bekommen, die Komplikationen, die Umstände durch Corona, die Faszination, dass da ein neuer Mensch ist und die Herausforderungen – das alles kam über uns wie eine riesige Welle. Wenn ich zurückblicke, ist da keine Schuld mehr. Ich weiß nicht ob ich bereits Frieden geschlossen habe mit so einem schweren Start, aber ich bin dankbar für meine im Hier und Jetzt gesunde, zufriedene Familie.
Zurück in der Vergangenheit lag aber noch einiges an Kummer vor uns als junge Eltern. Mitten im Umzug erkrankte unser Sohn an einer schweren Nieren-Becken-Entzündung und ich eilte mit ihm ins Krankenhaus. Als stillende Mutter war es eine Selbstverständlichkeit die Versorgung des Babys zu tragen. Ich bezog das Zimmer mit meinem kreidebleichen Säugling und blinkenden Überwachungsgeräten. Meine Neigung unter Schlafmangel Psychosen zu entwickeln vergaßen wir in der Aufregung völlig. Hilfe durch Besuch? Fehlanzeige. Durch die Corona-Epidemie waren die Besuchsregeln bis ins unmenschliche verschärft. Nach den ersten zwei Nächten begann ich zu spüren, dass etwas mit mir nicht stimmt. Mir war manchmal, als hätte ich einen Zeitsprung getan und wandelte auf der geschlossenen Station des Jahres 2013 umher. Der Schlafmangel triggerte meine Erinnerungen an meine damalige Psychose, war dieses verschwommene Denken doch aus dieser Zeit bekannt und mein Körper versuchte vielleicht so meinen Zustand einzuordnen. Ich klatschte mir Wasser ins Gesicht und machte weiter, kümmerte mich aufopferungsvoll um mein krankes Kind. Mein Mann versuchte mich, als einzigen erlaubten Besucher, zu entlasten, konnte das aber nicht immer leisten. Unser Umzug war parallel im vollen Gange. Albträume setzten ein und wirkten real. Ich nahm das wahr und bat eine Schwester, mich nach Möglichkeit in einem freien Raum auszuruhen, wo ich kurz vor der Dramatik eines am Tropf hängenden Kindes entkommen konnte. Ich nahm sporadisch ein Neuroleptikum ein, war aber nicht mehr dazu in der Lage das ärztlich abzusprechen und richtig zu dosieren. Vielleicht habe ich auch versucht ärztlichen Rat einzuholen, ich erinnere mich nicht.
Nach 5 Nächten war mein Mann zu Besuch und ich sagte, ich muss ausgetauscht werden, ich kann nicht mehr. Mein Sohn war wohlauf, musste aber noch ca. 2 Nächte bleiben zur Kontrolle. Mein Mann erzählte im Nachhinein, ich hätte lediglich spazieren gehen wollen. Ich weiß es nicht mehr. Ich nahm ein Taxi und ließ meinen Mann mit meinen Sohn allein. Danach sind meine Erinnerungen sehr bruchstückhaft, ich befand mich in einer psychotischen Manie. Ich checkte in ein Hotel ein, weinte mit entzündeten Brüsten in einer Dusche, war euphorisch, hatte Kontakt zu meinem geliebten verstorbenen Opa, wollte nicht mehr leben, hoch runter hoch runter. Ich verbarrikadierte mich in unserer kleinen, mit Umzugskartons vollgestellten Wohnung und ließ niemanden hinein. Versuchte zu schlafen mit aufgerissenen Augen. Meine Katze schmiegte sich zitternd an mich, als würde sie das alles verängstigen und als versuchte sie mich trotzdem zu beruhigen. Das alles war so wirr, chaotisch und furchterregend. Dann trat Jesus ein. Auf einmal fühlte ich mich sicher und mächtig. Mein Mann kehrte mit unserem Sohn heim, aber ich war so unfassbar wütend, so verletzt. Die traumatische Geburt, die fehlende Aufmerksamkeit, das Funktionieren, das Durchhalten. Ich forderte meinen Sohn und als man ihn mir nicht gab, rastete ich aus. Ich schrie und befahl meinem Mann, sich mir nicht zu nähern. Mein Partner trug die Verantwortung für unser Baby, vor sich eine völlig aufgewühlte Frau, die der Meinung war, sich mit den Kräften des Himmels zu verbinden. Im Nachhinein verstehe ich, warum der Rettungsdienst kam und mich mitnahm.
In der Geschlossenen nahm ich keine Rücksicht darauf, wie ich mit den Gefühlen anderer Menschen umgehe, fühlte mich unverstanden, wütend und konfus. Ich war in meinen Augen so etwas wie eine rechtschaffende Kämpferin, zeigte in Gottes Namen Missstände auf und schrie eine Verrückte Beleidigungen und satanistische Beschwörungen in ihrer Fixierung, schrie ich in seinem Namen „Ich vergebe dir“. Ebenfalls fixiert.
Ich war verzweifelt darüber, dass mir mein Kind weggenommen wurde, konnte in meinem Zustand die Erkrankung nicht mehr einsehen und wurde zwangsmedikamentiert. Ich weiß nicht wie ich das fertig bekommen habe, aber ich konnte scheinbar klar genug wirken, um nach zwei Wochen die Aufhebung des richterlichen Beschlusses der Zwangsverwahrung zu erklagen. Auch mein Mann hielt es nicht mehr aus, mich dort leiden zu sehen und nahm mich trotz weiter bestehenden halluzinativen Gedanken mit heim.
Manchmal glaube ich trotz aller Verrücktheit, da ist etwas dran. In dem Gefühl, dass mein verstorbener Opa da war, in dem Gefühl dass Gott da war. Heimgekehrt tat ich alles, um heil zu werden. Ich definiere eine Psychose manchmal als Selbstheilungsversuch des Körpers. Als letzter Ausweg, wenn zu lange verdrängt wurde und wenn ich meine Bedürfnisse zu lange missachtet habe. Ich horchte in mich hinein und versuchte für mich und meine Familie einen Ausweg zu finden. Mit unserer Familienhebamme organisierte ich Hilfe vom Jugendamt und einen Aufenthalt auf der Mutter-Kind-Station des Berliner Charité Krankenhauses. Ich nahm 5 Wochen an den dortigen Therapien teil und versuchte zu lernen, eine gute Mutter zu sein. Nach all der Zeit wo ich mich von der Geburt erholen musste und mich durch das unruhige Fahrwasser kämpfte, hatte ich zum ersten Mal Ruhe für meinen kleinen Sohn und mich. Ich hatte Angst, aber ich wurde selbstbewusster und profitierte von den Rückmeldungen, wie liebevoll ich als Mutter wahrgenommen wurde. Ich versuchte zu lernen, die Bedürfnisse meines Sohnes mit meinen in Einklang zu bringen. Meinen Frieden damit zu finden, dass ich das Stillen „nicht geschafft habe“. Ich hätte noch länger bleiben können, aber ich hatte Heimweh und fand es war an der Zeit, mit der Familie im neuen Haus erstmal anzukommen. Die Ärzte respektierten meine Ablehnung der Medikamente. Ich musste erstmal verdauen, dass diese mir nur wenige Wochen zuvor gewaltsam gespritzt wurden. Ich wurde auch ohne Medikamente als ausreichend stabil empfunden und entlassen.
Zuhause angekommen fiel ich in ein tiefes Loch. Ich bekam glücklicherweise zeitnah einen Platz in der nächstgelegenen Mutter-Kind-Station. Dort verbrachte ich aber lediglich 2 Wochen mit meinem Sohn, um mich auf Tabletten einstellen zu lassen. Ich war in einer Erschöpfungsdepression gefangen und hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Die Tabletten stabilisierten mich schnell und ich konnte zuhause gemeinsam mit der Familienhilfe vom Jugendamt meinen neuen Alltag strukturieren.
Wenn ich mir das alles jetzt im Rückblick anschaue, kann ich nicht fassen, was wir durchgemacht haben. Es liest sich wie ein Krimi.
„Kindertagesstätte. Eingewöhnung Tag 4. Ich sitze zusammen mit einer anderen Mutter auf der Fensterbank. Die Erzieher fordern uns dazu auf, uns zu verabschieden und den Raum zu verlassen. So wie gestern. „Tschüss mein Kleiner, Mama kommt später wieder“, ich streiche meinem Sohn über den Kopf, aber er ist voll und ganz gebannt von dem Bilderbuch mit dem Bauernhoftieren. 16 Monate alt. 16 Monate und 8 Tage. Eine Erzieherin begleitet uns hinaus. Ich bemerke, wie leicht es ihm fällt. „Ja“, sagt die Erzieherin, „aber es ist nicht leicht für die Mama“, und: „Sie dürfen ruhig weinen, das passiert vielen Müttern, das ist normal.“ – „Nein, nein, schon gut“, sage ich und gehe mit Mama 2 zum Pausenraum der Mitarbeiter, der Kaffee steht bereit. Ich bin nicht normal. Ich empfinde das was wir durchmachen mussten als normal, denn es ist uns passiert, es ist unsere Realität. Aber im Anbetracht der Worte der Erzieherin wird mir schmerzlich bewusst: Das ist es nicht. In der Krippe zu weinen, weil man eine halbe Stunde getrennt wird, ist normal. Unser Start, dein Start ins Leben mein Junge, ist es nicht. Nicht normal. Und die Bilder stürmen mein verdammtes, anders geartetes Gehirn. Mein Gehirn, was fähig ist, den Verstand zu verlieren, ohne jeglichen Drogeneinfluss. Und ich starre erneut in die glasigen Augen fremder Menschen, zusammen gepfercht in lieblos gestalteten Krankenzimmern mit Gittern vor den Fenstern. Hör die Verrückten schreien, Moment, auch meine Stimme hallt verzehrt in meinen Erinnerungen wieder. Es ist das eine, diesen gottverdammten Kopffick zu verwinden. Das andere, das Ausgeliefert sein. Das Aufgebrochen sein. Die Fixierungen. Wenn ich heute einem Heiler vertraue und mich auf eine Behandlungsliege lege, ist es das Erste was mir einfällt. Ein Krankenbett mit Gurten dran. Wie verkorkst ist das? Und du warst bei Papa. 7 Wochen alt. „Sie dürfen ruhig weinen“… Eine Erzieherin betritt die Mitarbeiter Küche und äußert, die Kleinen begännen häufiger zur Tür zu blicken. Wir können jetzt kommen. „Es hat gut geklappt. Nächste Woche weiten wir die Zeit dann aus.“
Mutterschaft.
Mutter.
Liebevoll, schenkt Geborgenheit. Fürsorge. Immer für das Kind da. Hat Kraft. Weiß, was für das Kind richtig ist. Kann ruhig bleiben. Ist achtsam. Kocht gutes, gesundes Essen. Geht in ihrer Aufgabe auf, findet Erfüllung darin. Kriegt alles unter einen Hut. Weiß Rat. Wiegt glücklich ihr Baby in den Schlaf.
Wir sind umgeben von Assoziationen, Normen, Erwartungen.
Wenn ich mir unsere Geschichte anschaue, bin ich verdammt stolz auf mich und meine Familie. Mein Sohn macht sich großartig, ich bin froh ihn zu haben. Sind wir normal? Keine Ahnung. Aber wir haben uns. Und ja, jetzt kommt der Rosamunde Pilcher Moment: Nach dieser krassen Hölle, macht uns das verdammt glücklich. Wie, spielt dabei doch eigentlich keine Rolle.
Ich bin liebevoll und fürsorglich, schenke meinem Sohn Geborgenheit. Aber ich bin manchmal auch ganz schön grantig und genervt. Ja, wenn‘s drauf ankommt, bin ich immer für meinen Sohn da. Aber ich habe auch gelernt, dass ich das nur kann, wenn ich auch für mich da bin. Ich habe Kraft, aber ich bin auch mal schwach und das ist ok. Ich koche gutes, gesundes Essen. Und bestelle Pizza. Ich finde im Mutter sein keine Erfüllung. Es bereichert mich, aber ich arbeite inzwischen auch als Genesungsbegleiterin. Das gleicht mich aus. Ich kriege alles unter einem Hut. Manchmal. Manchmal bricht Chaos aus. Dann machen wir eine Kissenschlacht. Rat weiß ich keinen und Kinder schlafen wie sie wollen. Aber das geht schon in Ordnung.
Anmerkung zum Thema Kinderwunsch trotz psychiatrischer Erkrankung: Ich besuchte 2019 während meiner Schwangerschaft die Fachtagung der deutschen Gesellschaft für bipolare Störungen (DGBS) und konnte im Rahmen der Veranstaltung an einem Workshop mit dem Thema „Schwangerschaft und Geburt“ teilnehmen. Allgemein kann ich diesen Verein als Anlaufstelle empfehlen.