Geschichten aus dem Arbeitsalltag

Geschichten aus dem Arbeitsalltag


Inhaltsverzeichnis:

Selbstfürsorge
Ein Tag in der ambulanten psychiatrischen Pflege


Selbstfürsorge

Ramona Philipson

August ´23. Heute war so ein Tag, wo ich mit der geballten Ladung „Mental Load“ zur Arbeit in die Wörterwerkstatt kam. Schon morgens im Zug fragte ich mich, was ich noch alles erledigen muss, warum der Tag nicht mehr Stunden hat, warum ich nicht mehr Kraft habe, und sowieso: Was ist mir eigentlich wichtig? Warum fühle ich mich so abgehetzt? Wie kriege ich das sortiert? Ich notierte mir ein paar Gedankengänge zu dem Thema, nahm mir vor meine Prioritäten neu zu ordnen und versuchte das Ganze erstmal beiseite zu schieben. Später im Schreibtreffen war ich dann wohl diejenige, die von der Gemeinschaft am meisten profitiert hat. Zusammen überlegten wir uns, welches Thema uns gerade interessiert und spontan erstellten wir eine Mindmap zur Selbstfürsorge. Ein herzliches Danke für den Reminder! Ich freue mich schon auf unsere kommenden Ideen.


Ein Tag in der ambulanten psychiatrischen Pflege
Tankstelle Fahrrad

anonym

Auf meinem Fahrrad fühle ich mich wohl! Wenn ich Fahrrad fahre, habe ich ein Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Die müden Autofahrer, die ich an der roten Ampel neben mir sehe, tuen mir leid und ich verstehe sie nicht. Warum setzen sie sich in diese blöden Blechkisten, verpesten unsere Umwelt, parken die Gehwege voll und hupen sich aggressiv an? Fahrt doch mit dem Rad, dass macht froh!

Heute ist ein strahlender Frühlingstag. Es ist angenehm warm, die ersten zarten Blätter an den Bäumen entrollen sich in einem vielversprechenden Lindgrün. In den Vorgärten sprießen Tulpen und Narzissen, in militärischem Reihe und Glied oder wild durcheinander, entsprechend den Vorstellungen der Gartenbesitzer. Erste Bienen trauen sich in das neue Frühlingsgrün auf der Suche nach schmackhaftem und nahrhaftem Nektar.

Ich bin unterwegs zu Frau Weber*. Frau Weber schmeckt schon lange nichts mehr. Sie leidet schon seit ihrer frühesten Kindheit unter Depressionen. Es gab nur wenige Zeiten im Leben der 70ig-jährigen in denen es ihr gut ging und sie so etwas wie Leichtigkeit und Unbeschwertheit erleben konnte. In Gedanken ganz bei ihr, realisiere ich, dass ich gar nicht auf den Verkehr achte und wie von Zauberhand schon vor ihrer Haustür angelangt bin. Wie bin ich nur hier hingekommen? So in Gedanken! Fühlt sich so eine Dissoziation an? Plötzlich steht man irgendwo und man weiß nicht, wie man dort hingekommen ist, geschweige denn, was die letzte Stunde überhaupt passiert ist? Ich kann spüren wie unsicher ich mich plötzlich fühle und gleichzeitig sagt mir mein Verstand, dass ich anmaßend bin, meine Gedankenverlorenheit mit einer Dissoziation zu vergleichen. Ich finde es manchmal schwer, die Tragik und die damit verbundenen Gefühle meiner psychisch erkrankten Klient*innen nachzuempfinden. Vermutlich kann man dies auch nicht, wenn man diese Erfahrung nie selber gemacht hat.

Doch jetzt ist es Zeit die Gedanken beiseite zu schieben und ganz bei Frau Weber zu sein. Vielleicht kann ich sie ja dazu bewegen, mit mir einen Spaziergang am Fluss zu machen. Frau Weber hat eine schöne geräumige Eigentumswohnung. Finanziell geht es ihr gut. Ihre Wohnung ist immer sehr ordentlich, aufgeräumt, aber nicht zu sehr, sodass sie einen Gemütlichkeitsfaktor hat. Man könnte sich hier wohl fühlen, es sich gut gehen lassen und seinen wohlverdienten Ruhestand genießen. Aber dies kann Frau Weber nicht. Sie kann nicht mit sich alleine sein. Sie hält sich nicht aus. Sie flüchtet vor sich selber. Frau Weber hat ein volles Wochenprogramm, damit sie nur nicht zu viel in ihrer Wohnung ist. Alleine.

Frau Weber erzählt, dass sie am Wochenende in der Notfallambulanz war, sie hatte den Rettungswagen gerufen, weil sie das Gefühl hatte einen Herzinfarkt zu haben, wie schon so oft. Sie glaubt den Ärzten nicht, dass die Reaktionen ihres Körpers von ihrer Seele gesteuert werden, dass sie körperlich ihrem Alter entsprechend fit sei. Sie fühlt sich doch so anders, so krank, so zerbrechlich und immer wieder so unendlich traurig. Frau Weber hat zahlreiche Krankenhausaufenthalte hinter sich, einige Psychotherapien durchlaufen. Frau Weber ist reflektiert, kann ihre Muster erkennen, weiß um ihre familiäre Sozialisation, sie weiß warum sie ein so geringes Selbstwertgefühl hat. Aber sie ist nicht in der Lage ihr verstandesmäßiges Wissen mit ihren Gefühlen zu verknüpfen.

Ich fühle mich hilflos. Was kann ich bewegen, was schon vor mir unzählige Psychiater, Psychotherapeuten und psychiatrische Fachpflegekräfte nicht bewegen konnten. Wieder einmal wird mir schonungslos klar, wie wenig ich eigentlich ausrichten kann, wenn da nicht bei der Betroffenen selber der Mut zur Veränderung da ist. Ich merke, wie die Schwere von Frau Weber mich ergreift und sich in mein eigenes Seelenleben einschleicht. Weg sind die frühlingshafte Freude und das überschwängliche Lebensgefühl, welches ich doch gerade noch hatte.

Hoffnung. Ich darf die Hoffnung nicht aufgeben denn, wenn ich die Hoffnung aufgebe, dann gebe ich Frau Weber auf.

Frau Weber und ich trinken Tee. Der Tee schmeckt mir gut und die dazu gereichte leckere und edle Lindt-Schokolade erreicht direkt mein Lebensgefühl wieder. Ich fordere Frau Weber auf, sich die Schokolade auf die Zunge zu legen und sie voll und ganz zu genießen. Mir zuliebe macht sie dies, Genuss kann sie nicht empfinden. Es tut ihr leid, dass meine Bemühungen nicht fruchten. Jetzt fühlt sie sich wieder für etwas schuldig. Das ihr so vertraute Gefühl ist wieder da.

Die Zeit ist gleich schon wieder um, ich muss los, wir verabreden einen nächsten Termin. Im Hinausgehen erzähle ich Frau Weber noch eine Anekdote, die mir am Wochenende passiert war. Da, ein kleines Zucken im Gesicht, der Mundwinkel geht für einen Bruchteil einer Sekunde nach oben, man kann ein Lächeln erahnen! Nein, ich habe kein Recht die Hoffnung aufzugeben! Genesung, in welcher Form auch immer, ist möglich. Und wenn es auch nur ein ganz kurzes Zucken im Gesicht war, von irgendwas hat Frau Weber heute profitiert, auch wenn es vielleicht nur das zuverlässige Wiederkommen ist.

Ich bin wieder draußen, schließe mein Fahrrad auf, spüre die Frühlingssonne auf meinem Gesicht, tanke auf und mache mich auf den Weg zu meiner nächsten Klientin.

*Name geändert